Die Geschichtsreise am Baltischen Meer beginnt an der Grenze zu Polen auf der Insel Usedom, einer der sonnenreichsten Gegenden Deutschlands. Mit einer Aprilia Tuono V4 bin ich entlang der gesamten Küste der ehemaligen DDR unterwegs bis nach Lübeck, dabei interessieren mich vor allem die Geschichte und einige historische Stätten mehr noch als ein reiner Badeurlaub. Nach Usedom gelangt man nach der Passage der größtenteils unberührten Naturlandschaft des Peenetals über die Zecheriner Brücke. Eine schmale Straße führt zwischen Getreidefeldern zum DDR-Museum Dargen, das 1997 gegründet wurde und neben zahlreichen Fahrzeugen auch Konsumgüter sowie Haushaltsgegenstände, Propagandamaterial und Spielzeug aus der Zeit des Kalten Krieges zwischen 1949 und 1989 ausstellt. Nach diesem ersten Rendezvous mit der Zeitmaschine erkundige ich in tunnelartigen Alleen mit zum Teil völlig dichtem Blätterdach die Insel auf dem Weg nach Heringsdorf, zu den „Kaiserbädern“. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden dort bereits fantastische Villen mit riesigen Parks und Aussicht direkt auf die Ostsee. Auch die Jugendherberge ist in einer Bäderarchitekturvilla untergebracht und liegt unmittelbar hinter dem Deich am Meer. Ich bin der einzige Motorradgast hier und die Teens auf Klassenfahrt interessieren sich überhaupt nicht für die geniale Tuono V4, die Zeiten haben sich geändert!
Major Tom
Am nächsten Morgen folge ich dem breiten Sandstrand über 40 km bis nach Peenemünde im Nordwesten, dort werden im Historisch-Technischen Museum hinter meterdicken Mauern die Geschichte und die Entstehung der ersten Marschflugkörper und der ersten funktionierenden Großrakete aus der Zeit des Dritten Reichs dokumentiert. Von 1936 bis 1945 war hier das größte militärische Forschungszentrum Europas, auf einer Fläche von 25 km² arbeiteten bis zu 12.000 Menschen gleichzeitig an neuartigen Waffensystemen, die als Terrorwaffen gegen die Zivilbevölkerung konzipiert waren und größtenteils von Zwangsarbeitern gefertigt wurden. Ab 1944 gelangten diese als „Vergeltungswaffen“ zum Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Sie bildeten später die Basis aller weiteren Raketenentwicklungen für die Weltraumfahrt und die Raketenwaffen des Kalten Krieges.
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Tuono fahren fällt danach schwer. Ist sie doch gewissermaßen auch eine Rakete, auf zwei Rädern jedoch und vielleicht die Krönung dieser Fahrzeugkategorie, bevor sie die panische Devotion zur Elektromobilität auch in ein Museum verbannen wird, in dem man vielleicht in 80 Jahren die (friedliche) Technologie bestaunen kann. Das „Blaue Wunder“, die beeindruckende Straßen- und Eisenbahn-Klappbrücke von Wolgast, führt mich über die Peene wieder aufs Festland. Im Fischereihafen Freest mache ich eine Pause und komme ins Gespräch mit Fischer Dirk Baumann, der seit Jahren ums Überleben der Fischfangflotte an der Ostsee kämpft. Kriegsschauplätze, Überlebenskampf der Fischer, dann das ehemalige Kernkraftwerk Greifswald bei Lubmin. Irgendwie will sich die richtige Urlaubsstimmung nicht einstellen. Vielleicht kann da eine kleine Bootsfahrt helfen: Bei Stahlbrode nimmt mich eine kleine Fähre der Weißen Flotte nach Rügen mit. Ich teile mir den Platz mit einem Simson SR 50 Roller. Weit und breit keine Motorräder zu sehen – bin ich im falschen Film? Über kleinste Nebenstraßen suche ich die große Freiheit auf der Insel. Die Tuono, einst Superbike-Weltmeisterin, schlägt sich auch auf dem kilometerlangen Kopfsteinpflaster der besonders ursprünglichen Deutschen Alleenstraße zwischen Putbus und Granitz überraschend gut. Ansonsten Hüpfburgen, Streichelzoos und Dinoparks… not my cup of tea! Und dann kommt das „längste Gebäude der Welt“, die rund 4,7 km lange Anlage „KdF-Seebad Rügen“, die zwischen 1936 und 1939 als Erholungsort für 20.000 Menschen gebaut wurde und neben dem „Reichsparteitagsgelände“ in Nürnberg die größte geschlossene architektonische Hinterlassenschaft der nationalsozialistischen Zeit darstellt. Im Dokumentationszentrum des teilweise renovierten Komplexes mit Luxuswohnungen befindet sich eine ausgezeichnete Ausstellung zu Propaganda und technischem Fortschrittsglauben des Dritten Reichs.
Geschichtsstunde
Eher spartanisch geht es in der Jugendherberge zu, die im gleichen Bau untergebracht ist. Nach der unruhigen Nacht mit den Geistern der Geschichte muss einfach wieder Schönheit in mein Herz! Früh am Morgen breche ich auf und genieße die entspannte Fahrt ohne Verkehr über Nebenstraßen zwischen gold-gelben Getreidefeldern bis zum Nordstrand bei Kap Arkona. Über eine steile Treppe gelangt man durch den Mischwald ans Meer. Ich habe den kilometerlangen Sandstrand mit einem Vorhang aus sattem Grün nur für mich, leider ist es zum Baden aber viel zu kalt. Stattdessen Cruisen über betonierte Feldwege zwischen Kornfeldern. Ich lasse mich in die ungefähre Himmelsrichtung treiben. In Wiek genieße ich einen Kaffee im reetgedeckten Kaffeehaus mit gesprächigen Kunden und bei Wittow gehe ich wieder auf eine kleine Fähre. Hier verstehe ich endlich, was mir fehlt, um meine Urlaubssynapsen voll zu aktivieren: Es ist einfach zu kalt hier im Norden: Die Kiefern am Meer schwitzen keine Harze aus, es fehlt der charakteristische süße Duft, der sich am Mittelmeer über die Gesichtshaut legt wie eine Wellness-Maske! In Richtung Vorpommersche Boddenküste finden sich dann wieder schöne Motorradstrecken durch dichte Alleen und zwischen wogenden Ähren. Nach einem ausgezeichneten Fischbrötchen in Barth stellen sich endlich sommerliche Temperaturen ein, kurz hinter Zingst dann die magischen 3 Buchstaben am Straßenrand: FKK! Nacktbaden war schon zu DDR-Zeiten ein Kulturgut, ich nehme das gerne an und reiße mir am Strand der Ostsee die verschwitzten Motorradklamotten runter, um wie ein kleines Kind in die Ostsee zu springen. Endlich kann ich die Anspannung der letzten Tage runterwaschen und bekomme eine kleine Brise Sommer mit Meeresrauschen und dem Duft von Sonnenöl in die Nase. Wolkenverhangener Himmel und kühle Temperaturen begleiten mich am nächsten Tag auf einer fast erstaunlich kurvigen Strecke über Graal-Müritz bis nach Hohe Düne, wo mich eine Fähre durch den riesigen Rostocker Hafen nach Warnemünde übersetzt. Kurzer Fotostopp dann am Kurhaus in Heiligendamm, wo die Staatsoberhäupter der 8 führenden Industrienationen 2007 einträchtig nebeneinander in Strandkörben posierten. Die „Weiße Stadt am Meer“ ist das älteste Seebad Deutschlands und wurde bereits 1793 gegründet. Überraschenderweise stehen an der Uferpromenade noch zahlreiche baufällige Luxusvillen, deren Renovierung aber teilweise im Gang ist.
Traumstrände?
Weiter westlich, auf dem Weg zum Salzhaff, finden sich dann wieder leere kleine Landstraßen. Zwar mit wenig Kurven, dafür gibt es aber herrliche Ausblicke von kleinen Hügeln über die Felder aufs Meer. Dort liegt auch das Ostsee-Gutshaus, ein kleines Landhotel, in dem die Chefin Marita für den Wohlfühlfaktor sorgt. Das Haus ist ein lebendes Münch 2000 Museum: Ihr 2017 verstorbener Lebenspartner Thomas Petsch hatte die Marke um die Jahrtausendwende wiederbelebt und einige wenige der exklusiven Maschinen mit 2 Litern Hubraum und angeblicher Leistung von 260 PS bei 250 km/h Höchstgeschwindigkeit gebaut. Die eingeschränkte Fahrbarkeit sowie die extrem hohen Kosten der Maschine führten bald zur Einstellung des Projekts. Petsch entwickelte danach die Elektro-Rennmaschinen Münch TTE-1 sowie TTE-2, mit denen er einige Weltmeistertitel in Rennserien für elektrische Motorräder gewinnen konnte. In der Suite des Hotels hat man die Ehre, direkt mit einer Münch 2000 im Schlafzimmer zu nächtigen. Über das gesamte Hotel verteilt finden sich Dokumente, Erinnerungsstücke und Bauteile des irrwitzigen Projekts. Hier kann man wirklich die Seele baumeln lassen, endlich angekommen nach 4 Tagen Historientour am Meer. Als sich schließlich beim Spazierenfahren am Abend ein traumhafter Sonnenuntergang einstellt, finde ich meinen Frieden. Vielleicht ist die Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern nicht die beste Gegend Deutschlands für ausgedehnte Motorradtouren auf kurvigen Straßen, aber als Bildungsreise mit interessanten historischen Einblicken und bewegenden Landschaften geht sie allemal durch. Und eine Kulturreise auf dem Motorrad ist sowieso viel intensiver als in einem Blechkäfig. Man ist einfach viel näher dran. Um den Strich auf der Landkarte wirklich komplett zu machen, fahre ich noch durchs Getümmel bis nach Travemünde in Schleswig-Holstein.
Motorradtour Lost Places an der Ostseeküste – Geschichtsreise am Baltischen Meer – Infos
Die Geschichtsreise am Baltischen Meer beginnt an der Grenze zu Polen auf der Insel Usedom, einer der sonnenreichsten Gegenden Deutschlands. Mit einer Aprilia Tuono V 4 bin ich entlang der gesamten Küste der ehemaligen DDR unterwegs bis nach Lübeck, dabei interessieren mich vor allem die Geschichte und einige historische Stätten mehr noch als ein reiner Badeurlaub.
Allgemeine Infos
Die Ostseeküste ist kein ausgesprochenes Kurvenrevier für Motorradtouren, bietet aber im Hinterland interessante Strecken durch lange Alleen und über kleinste Straßen sowie zum Teil auch noch über Patrouillenwege. Interessant für historisch interessierte Menschen.
So lang ist diese Motorradtour: ca. 590 km
Der höchste Punkt der Strecke: 97 Meter über NN
Anreise
Von Kassel aus durch den Harz, entlang der Elbe, durchs Havelland und das Mecklenburger Großseenland. Rund 500 km. Rückfahrt von Lübeck über die Autobahn, rund 400 km.
Beste Reisezeit
Mai–Oktober, Hochsaison Juli–August am besten vermeiden
Verpflegung
Absolut empfehlenswert ist das Restaurant Schifferwiege in Wustrow, das Fisch- und Fleichgerichte aus der Region bietet wie:
Fisch ut Pott un Pann:
Dorsch im Fischfond gegart, mit Meerrettichsoße, Sahnemeerrettich und Petersilienkartoffeln
Grüne Heringe gebraten, mit Bratkartoffeln
Aal gebraten, mit Bratkartoffeln und Salatbukett
Noch`n bät`n Fisch:
Zanderfilet gebraten, wahlweise mit Safransoße oder feiner Kräutersoße und Petersilienkartoffeln
Fischplatte „Schifferwiege” mit Lachssteak, Zanderfilet und Dorschfilet, gebraten, dazu dreierlei Soßen sowie Petersilienkartoffeln
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