Adventure-Mittelklasse: KTM 790 Adventure & 790 Adventure R - Fahrtest

Adventure-Mittelklasse: KTM 790 Adventure & 790 Adventure R - Fahrtest

Lesezeit ca. 8 Min.

KTM baut mit der 790 Adventure seine Mittelklasse-­Baureihe aus und schafft mit zwei Versionen ein breites Angebot für Weltenbummler und schnelle Bergfexe.
Es war sonnenklar in Mattighofen: Zwischen den dicken 1290er V2-Brummern für Straße und „On/Off“ – so tituliert man im angelsächsischen Sprachraum das, was wir unter Reiseenduros verstehen – und den feinen, aber leichten Einzylindern klafft eine große Lücke. Aber der Motor des Neulings musste besonders kompakt ausfallen, um eine große Zahl von potenziellen Käufern ansprechen zu können, nämlich auch solche ohne Gardemaß. Deshalb erfanden die Entwickler den LC8c, den kompakten Reihen-Zweizylinder. Seine Bauhöhe ist so gering, dass über dem Zylinderkopf noch Platz für Teile des Tanks ist, und dort, wo beim V2 (LC8) der hintere Zylinder viel Platz und Höhe beansprucht, ist Raum für Kleinigkeiten, sodass man einen niedrigen Sitz installieren kann. „Höher geht immer, aber niedriger eben nicht“, wissen die Oberösterreicher. Und weil man die 790 Duke, bereits letztes Jahr vorgestellt, und die 790 Adventure parallel entwickelt hat, holt Mattighofen nun zum zweiten Aufschlag aus. Es sieht ganz nach einem „Ass“ aus, wie man in der Tennissprache sagen würde.


KTM 790 Adventure

Advantage KTM Adventure

Um beim Tennis zu bleiben: KTM dürfte sich im Spiel um die Kundengunst einen Vorteil verschafft haben. Die neue 790 Adventure (und, eingeschränkt, auch ihre R-Schwester) ist so breitbandig, so nützlich und vergnüglich zugleich, dass man sagen muss „Advantage KTM Adventure“. Die Kombination aus reichlich Leistung (95 bestens nutzbare PS), überschaubarem Gewicht (210 Kilogramm inklusive 20 Liter Sprit), vorteilhafter Sitzhöhe (830/850 mm) sowie extremer Zuladung (240 Kilogramm), feinem Fahrwerk, besten Bremsen und einer super Elektronik-Ausstattung verleiht dieser neuen KTM eine einmalige Stellung am Markt. Einstmals gab es ein Motorrad dieser Art von BMW; es hieß F 800 GS und war rank und schlank, ist von den Bayern aber zur vollschlanken F 850 GS hinaufgefüttert worden. Jetzt hat KTM freie Bahn.
Damit erst gar keine Verwirrung aufkommt: Die 790 Adventure und die 790 Adventure R sind 95-Prozent-Zwillinge; sie nutzen den selben Antrieb, das selbe Cockpit samt Lenker, die selben Bremsen und die selbe Elektronik. Fast alles was im Folgenden ausgeführt wird, gilt deshalb für beide Versionen gleichermaßen. Und deshalb dürfte KTM auch richtig liegen mit der Produktionsplanung: Etwa ein Drittel der verkauften Bikes dürfte auf die R-Version entfallen. Die Mehrzahl der Kunden, der männlichen wie weiblichen, wird wohl mit der Normalversion bestens bedient sein.
Der mit 20 Litern für diese Fahrzeugklasse sehr große Tank war für die Entwickler eine Herausforderung. Um so viel Sprit in diesem zierlichen Motorrad bunkern zu können, wählten die KTM-Entwickler eine außergewöhnliche Tank-Lösung: Der Tank reicht links und rechts des Motors bis an den Motor-Unterschutz herunter und sorgt für eine Ausbeulung vor den Fußrasten. Eine Bruchgefahr des Tanks bei eventueller Kollision mit einem Hindernis schließt KTM aus; ob potenzielle Kunden diese optische Besonderheit goutieren, bleibt abzuwarten. Wir tippen angesichts der Vorteile für Reichweite wie auch Fahrzeugschwerpunkt auf „Ja“.


KTM 790 Adventure

Offroadtaugliches Langstreckenmotorrad

Der erste Fahreindruck mit diesem Modell bringt keine Überraschung zutage: Die 790 Adventure lässt sich leicht, ja sogar sehr leicht fahren. Ein kurzer Lenkerzug genügt zum Einlenken, dank des recht tiefen Schwerpunktes und des ideal breiten Lenkers. Stabil eilt sie um Biegungen, ist mit ihren 20 Zentimetern Federweg bestens auf Schlechtwegestrecken vorbereitet. Mit 23 Zentimetern Bodenfreiheit und schmalem Chassis ist zudem Schräglagenfreiheit ohne Ende gegeben; ausprobieren konnten wir dies wegen markanten Kurvenmangels in der marokkanischen Sahara allerdings nicht. Ein kleiner Ausflug ins „Off“ verdeutlichte aber unmissverständlich, dass die Basisversion auf Exkursionen in leichtes und mittelschweres Gelände ausgezeichnet vorbereitet ist. KTM charakterisiert sie als „offroadtauglichstes Langstreckenmotorrad“ des Marktes – nach dem ersten Trip erscheint Widerspruch kaum möglich.
Warum? Mit ihrem souveränen 95 PS-Zweizylinder, der guten Ergonomie und dem perfekten Verhältnis aus Verbrauch (laut WMTC-Test 4,2 Liter auf 100 Kilometer) und Tankvolumen ergibt sich eine Reichweite von allemal 400 Kilometern. Einzige Einschränkung der Langstreckentauglichkeit: Der relativ hohe Windschild ist in Kombination mit einem Endurohelm nicht gerade leise; wir würden den kleineren R-Windschild vorziehen, obwohl er weniger Windschutz bietet. Der Wechsel zwischen beiden ist ein Klacks. Der Schild ist in jedem Fall nach Lösen einer Schraube um vier Zentimeter höhenverstellbar. Aber es fährt auch nicht jeder „Adventurist“ mit dem grundsätzlich lauteren Endurohelm. Die 790 Adventure rollt serienmäßig auf einem Avon Trailrider; der ist ein sogenannter Straßen-Enduroreifen und als solcher ein guter Kompromiss. An seine Grenzen kommt er konzeptionsbedingt dann, wenn der Untergrund tiefer und feuchter wird und sein Profil zu wenig Seitenführung und Traktion bietet. Für Gravelroads, Feld- und nicht zu feuchte Waldwege erscheint er allemal ausreichend. Trotz des niedrigen Vorderradkotflügels der Basisversion können aber auch Metzeler Karoo3 – sie sind auf der R-Version Serie – gefahren werden; der Freigang dafür ist vorhanden. Dann darf man die Grenzen im „Off“ getrost weiter stecken, denn mit den gebotenen 200 mm Federweg ist man allemal gut dabei; zumal im Vorderrad ja auch ein 21-Zoll-Speichenrad rotiert, dessen Pneu das vorteilhafte Format 90/90 aufweist. Damit ist einwandfreie Spurführung gewährleistet, nicht anders als auf der R.


KTM 790 Adventure

Zuladungsgrenze 240 Kilogramm

Joe Pichler, Salzburger Motorrad-Weltreisender, hat auf der 790 Adventure R bereits 15.000 Kilometer Afrika-Erfahrung gesammelt. Anfang November ist er im Tschad gestartet und hat, mit seiner Ehefrau als Sozia, die gesamte Bandbreite afrikanischer „Straßen“ unter den natürlich grobstolligen Rädern gehabt. „Die R-Version ist vor allem dann im Vorteil, wenn man oft viel zulädt und viel grobes Terrain bereist, weil man dann größere Reserven hat“, lautet sein Zwischenfazit.
Die Zuladungsgrenze ist extrem hoch: KTM erlaubt 240 Kilogramm! Natürlich ist der Sitzkomfort für Großgewachsene bei den 880 mm Seriensitzhöhe der R ein weiterer Vorteil. Die Normalversion sieht Pichler auch im Gelände nicht unbedingt im Nachteil, weil Nicht-Hünen leichter den Boden erreichen, sei’s für sicheren Stand oder zum „Mit-Paddeln“, beispielsweise im Sand.
Apropos Sand: Einen ganzen Tag lang sind wir mit der R-Version großenteils im „Off“ unterwegs gewesen, auf Pisten unterschiedlicher Art, im Sand, auf steilen, gerölldurchsetzten Fahrwegen mit teils groben Felsstufen. Das „langstrecken­tauglichste Offroad-Motorrad des Marktes“ (KTM-Eigenbeschreibung) machte seine Sache ausgezeichnet, wobei hinzuzufügen ist, dass wir nicht auf dem Karoo3, sondern auf echten Offroad-Gummis mit groben Stollen fuhren. Doch eben dadurch konnte die KTM zeigen, wie gut ihr mit Schwungmasse nicht allzu sehr gesegneter Zweizylinder-Achthunderter durchzieht, wenn die Zeit zum Schalten trotz des feinen Quickshifters (Options-Ausstattung) nicht mehr ausreicht. Die Abwürge-Gefahr ist geringer als erwartet. Untadelig ist die Fahrstabilität auf unebenem Untergrund, die in allen Parametern einstellbaren Feder- und Dämpfungselemente zeigten sich selbst bösartigen Durchschlag-Fallen gewachsen. Die 240 mm Federweg in Verbindung mit hoher Qualität (vorne 48 Millimeter Gleitrohr-Durchmesser!) stempeln die R-Version in der Tat zu einem echten Offroader, aber eben zu einem mit guten Langstrecken-Qualitäten. Denn auch die R weist das komplette elektronische Sicherheitspaket inklusive Kurven-­ABS auf.


KTM 790 Adventure TFT-Display

TFT-Display & Offroad-ABS

Die Vierkolben-Radialsättel sind beste Ware. Gleichermaßen hochklassig ist auch das 5,5 Zoll große TFT-Display. Die Anzeigen sind gut strukturiert, die Grafik ist aufgeräumt, die Ablesbarkeit recht gut. Nur „recht“, weil die Oberfläche doch eine Vielzahl an Informationen gleichzeitig bietet, was ein ziemlich kleines Schriftbild bedingt. Von großer Klasse ist die Bedienlogik des allerfeinst bestückten Computers: Die vier Tasten auf der linken Lenkerseite lernt man sehr schnell virtuos zu bedienen, sodass man zügig in die Untermenüs gelangt. Die Einstellungs-Möglichkeiten sind vielfältig; serienmäßig werden drei Riding-Modes geliefert, nämlich Rain, Street und Offroad. Die Spontaneität der Gasannahme wie auch die Art und Menge der Leistungsabgabe – in Rain gibt’s nur 80 PS – sind hier individualisierbar. Das ABS, vollkommen separat regelbar, bietet drei Möglichkeiten: Street (totale Absicherung auch in Kurven) und Offroad (regelt vorne erst spät und hinten gar nicht) sind möglich, dazu kommt die komplette Deaktivierung des ABS. Mit dem Offroad-ABS fühlten wir uns bestens, allerdings heißt es auf Asphalt-Verbindungsetappen aufpassen.
Ebenfalls deaktivieren lässt sich die Traktionskontrolle, um auf losem Untergrund stets über genug Wheelspin zu verfügen. Noch differenzierter sind die Regelungsmöglichkeiten, wenn man den optionalen Fahrmodus Rallye dazukauft (in der R Serie); er stellt die totale Individualisierungsmöglichkeit aller Parameter her und lässt zudem zu, diese Einstellungen auch abzuspeichern. Dann stehen sie nach einem Neustart des Triebwerks ohne erneutes Tastendrücken wieder zur Verfügung. Zudem lässt sich die Traktionskontrolle im Fahren in neun Stufen mittels eines einzigen Knopfdrucks variieren: So waren wir im Sand meist mit „Spin 1“ unterwegs, also dem geringstmöglichen Regelungseingriff, und haben auf Pisten flugs zu „3“ hinaufgezappt. Oder auch nicht, denn mit etwas Gefühl im rechten Handgelenk geht’s ja auch „von Hand“. Wichtiger ist ohnehin die Gegenrichtung, denn plötzliches „Eintauchen“ in eine Tiefsand-Passage mit viel Traktionskontrolle ist unvorteilhaft.


KTM 790 Adventure & Adventure R

Leichte Mittelklasse-Reiseenduros

Das KTM-Motto „Ready to Race” ist der 790 Adventure klar anzumerken, ohne dass ihr Nutzungsprofil eingeengt würde: Sie ist ein zugleich sportlich wie entspannt zu fahrendes Motorrad, ist nicht nervös, bietet aber stets die Chance zum Angasen, ohne beim Fahren mit „Ruhepuls“ zu langweilen. Dass die Mattighofener Offroad können, haben sie mit ihren 18 „Dakar“-Siegen in Reihe eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Jetzt zeigen sie in ebenso eindrucksvoller Manier, dass sie den Spezialisten wie den Normalo zugleich ansprechen können, und zwar mit einem echten Multifunktionsbike, gut auf der Langstrecke und je nach Version sehr gut oder gar exzellent jenseits des Asphalts. Insofern stellen 12.399,-- Euro (zuzüglich Liefernebenkosten) bzw. 13.399,-- Euro für die R-Version einen fairen Preis dar. Dafür erhalten Käufer nicht nur ein vielfältig einsetzbares
Motorrad, sondern auch ein mit 15.000-Kilometer-Serviceintervallen wartungs­armes. Wer Sorge hat, die viele Elektronik wäre „tief in Afrika“ ein Zwangsstop-­Risiko, sollte Joe Pichler glauben: „Wenn’s hapert, dann meist an der Mechanik“, ist seine Erfahrung. Denn ein Ausfall der Regelelektronik führe nicht zur Totalverweigerung, sondern meist lediglich zum Ende der Regelungsmöglichkeit. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn die recht hohen Erwartungen der KTM-Produktentwickler eintreffen würden. Denn derzeit nimmt die KTM 790 Adventure auf dem Markt der Mittelklasse-Reiseenduros eine Alleinstellung ein: Mit wenig Gewicht, voll ausreichender Leistung, toller Ausstattung, Ergonomie und einem fairen Preis. Ob die ab Juli lieferbare Yamaha Ténéré 700 ein ähnlich stimmiges Paket bietet, muss sich erst zeigen. Motorrad & Reisen wird baldmöglichst berichten …
Vergleich KTM 790 Adventure 2019-2020 und KTM 790 Adventure R 2019-2020
KTM 790 Adventure
2019-2020
KTM 790 Adventure R
2019-2020
Motor
Bohrung x Hub 88 x 65,7 mm 88 x 65,7 mm
Hubraum 799 ccm 799 ccm
Zylinder, Kühlung, Ventile Zweizylinder, flüssigkeitsgekühlt, 4 Ventile pro Zylinder Zweizylinder, flüssigkeitsgekühlt, 4 Ventile pro Zylinder
Abgasreinigung/-norm Euro 4 Euro 4
Leistung 95 PS (70 kW) bei 8.000 U/min 95 PS (70 kW) bei 8000 U/min
Drehmoment 89 Nm bei 6.000 U/min 89 Nm bei 6000 U/min
Verdichtung 12,7:1 12,7:1
Höchstgeschwindigkeit 200 km/h 200 km/h
Wartungsintervalle Erstinspektion bei 1.000 km, danach alle 15.000 km oder jährlich Erstinspektion bei 1000 km, danach alle 15000 km oder jährlich
Kraftübertragung
Kupplung Anti-Hopping-Kupplung Anti-Hopping-Kupplung
Schaltung 6-Gang 6-Gang
Antrieb X-Ring-Kette X-Ring-Kette
Fahrwerk & Bremsen
Rahmen Chrom-Molybdän-Stahlrahmen, Motor mittragend Chrom-Molybdän-Stahlrahmen, Motor mittragend
Federelemente vorn 43-mm-Upside-down-Gabel 48-mm-Upside-Down-Gabel
Federelemente hinten WP-Federbein WP-Federbein
Federweg v/h 200 mm/200 mm 240 mm/240 mm
Radstand 1.509 mm 1528 mm
Nachlauf 107,8 mm 110,4 mm
Lenkkopfwinkel 25,9° 63,7°
Räder Speichenräder mit Aluminiumfelgen Speichenräder mit Aluminiumfelgen
Reifen vorn 90/90-21 90/90-21
Reifen hinten 150/70-18 150/70-18
Bremse vorn 320-mm-Doppelscheibenbremse, 4-Kolben-Bremssättel 320 mm Doppelscheibenbremse, 4-Kolben-Bremssättel
Bremse hinten 260-mm-Einscheibenbremse, 2-Koblben-Bremssattel 260 mm Einscheibenbremse, 2-Koblben-Bremssattel
Maße & Gewicht
Länge 2.219 mm 2219 mm
Breite 890 mm 890 mm
Höhe 1.262 mm 1262 mm
Gewicht 210 kg 210 kg
Maximale Zuladung 240 kg 240 kg
Sitzhöhe 830 - 850 mm 880 mm
Tankinhalt 20 Liter 20 Liter
Weitere Baujahre 2023
Fahrerassistenzsysteme
ABS
Traktionskontrolle
Fahrmodi
Fahrzeugpreis ab 12399,-- Euro 13399 €
Text: Ulf Böhringer, Fotos: Marco Campelli, KTM


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Letzte Aktualisierung: 17.04.2019

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