Fahrbericht Royal Enfield Bear 650 – Bärenjagd in Palm Springs
Royal Enfield haut das nächste Twin-Modell raus: Die Bear 650 basiert auf der Interceptor und macht aus dem Classic Roadbike einen waschechten Scrambler.
Zwei Twin-Plattformen hat Royal Enfield bekanntlich im Angebot. Auf der einen basieren seit 2018 die Modelle Interceptor und Continental GT. Auf der anderen sind die Modelle Super Meteor (2023), Shotgun (2024), Classic 650 und die neue Bear 650 (beide ab 2025) unterwegs. Allesamt teilen sich einträchtig den auf unbeschwerten Fahrspaß getrimmten Parallel-Twin mit 648 ccm Hubraum, 47,4 PS Leistung und bislang maximal 52,3 Nm Drehmoment. Jetzt legt Royal Enfield erstmals nach, wenn auch nur ein bisschen: Der bärige Scrambler Bear 650 bekommt etwas mehr als vier Newtonmeter on top. Bei 5.150 Touren leistet er 56,5 Nm. Der Zuschlag von acht Prozent mehr Bums bekommt dem Triebwerk ausgesprochen gut: Schon bei niedrigen Drehzahlen zieht die Bear 650 souverän davon. Gut, das tun ihre Twin-Geschwister auch, aber bei Royal Enfields erstem modernen Scrambler sorgt das Drehmomentplus für dieses gewisse Etwas, dieses wohlige Kribbeln beim Gasgeben, das vielen A2-Motoren mit linearer Kraftentfaltung abgeht. Premiere feiert die Bear 650 auf der EICMA 2024. Motorrad & Reisen war bereits mit ihr unterwegs!
Wir sind in Palm Springs. Nicht das Rentnerparadies in Florida, wo „weird“ Donald Trump seinen Besseresser-Golfclub Mar-a-Lago unterhält, sondern im Wüsten-Paradies in Kalifornien, rund 2,5 Fahrstunden östlich vom Los Angeles International Airport gelegen, so es einigermaßen läuft auf den Rumpel-Pumpel-Highways der Giga-Metropolregion „Greater Los Angeles Area“ mit ihren 13 Millionen Einwohnern. Eigentlich hätten wir am malerisch gelegenen Great Bear Lake aufschlagen sollen zur ersten Fahrpräsentation der Bear 650. Aber nun: Die alljährlichen Waldbrände in Kalifornien machten das unmöglich. Wochenlang verdunkelten schier apokalyptisch anmutende Rauchwände den Himmel. Ein Jammer in jeglicher Hinsicht. Hätten wir doch auf den Pfaden von „Fast Eddie“ wandeln sollen. Eine der größten Fahrerlegenden, die Royal Enfield in seiner langen Geschichte – 1901 startete das Unternehmen – hervorbrachte.
Historischer Erfolg beim „Big Bear Run“
Kurzer Rückblick: Wir schreiben das Jahr 1960. Beim Querfeldein-Rennen „Big Bear Run“ treten 765 Haudegen gegeneinander an. „158 Meilen Full-Speed all the way“ wirbt das Originalplakat. Die Startlinie ist gut eine Meile lang. Mit von der Partie, zwischen wenigen Profis und vielen Waghalsigen: Eddie Mulder, 16 Jahre jung, ein Kid aus der Region, das seit frühester Kindheit motorisiert durch die weite Wüstenlandschaft ballert – unterstützt und gefeiert von seinen Eltern. Drei wilde Runden stehen an beim Big Bear Run. Eddie startet auf einer 500er-Royal-Enfield, die ihm der lokale Händler anbot. Es ist sein erstes „Werksmotorrad“. Und der Halbwüchsige – als Letzter hinter dem Feld gestartet wegen eines Last-Minute-Toilettengangs – holt damit sensationell Platz 1!
Bei der wilden Hatz fährt er sich erst die rechte Fußraste ab (die konnte ersetzt werden), dann zerlegt es bei einem recht kapitalen Sturz seinen rechten Stoßdämpfer (der musste dranbleiben). Trotzdem jagt Eddie als Erster über die Ziellinie. Ein Husarenstreich. „Dieser Sieg hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt – und für alle Zeiten in andere Bahnen gelenkt“, sagt Fast Eddie, gefeierter Ehrengast der Bear-650-Pressekonferenz. „Nie werde ich vergessen, wie stolz und glücklich mich meine Eltern angesehen haben. Schule war damit gegessen – ich wurde Rennfahrer.“ Mit Zigarrenstumpen im Mundwinkel sitzt der heute 80-Jährige auf der Bühne und grinst, als wäre er just erst von seiner halb zerlegten Royal Enfield Fury aufs Podest gestiegen – als bis heute (!) jüngster Sieger des legendären Rennens. Sein Erfolgsgeheimnis damals ist heute der Werbespruch der Bear 650: „In Gut We Trust“ – frei übersetzt: immer schön aufs Bauchgefühl hören.
Wüstenspirit für die Neuzeit
Exakt diesen Wüstenrallye-Spirit soll Royal Enfields Scrambler übertragen in die Neuzeit. Gut zwei Drittel der Teile sind neu gegenüber der Interceptor, heißt es. Geblieben sind unter anderem der Rahmen (am Heck verstärkt), der Tank, die Bedienelemente und natürlich der Antriebsstrang – in diesem Fall leicht gepimpt und mit neuer 2-in-1-Auspuffanlage versehen. Als erstes Twin-Bike von Royal Enfield bekommt die Bear 650 eine komplette LED-Beleuchtung (Scheinwerfer, Blinker, Rücklicht). Dazu gibt es das von der Himalayan 450 bekannte „Tripper Dash“-Rundinstrument mit 4 Zoll großem TFT-Farbdisplay, Konnektivität und Google-Maps-Navigation.
Breiterer Lenker, weniger Gewicht
Die Fußrasten wandern im Vergleich zur Interceptor leicht nach unten und nach vorn, das Gewicht sinkt um drei Kilogramm auf 214 kg fahrbereit, das zulässige Gesamtgewicht beträgt weiterhin 400 kg, macht 186 kg maximale Zuladung. Der Lenker legt im Vergleich zur Genspenderin um 20 mm zu und verschafft der Bear 650 eine maximale Breite von 855 mm, der Radstand streckt sich von 1.398 mm auf 1.460 mm, die Bodenfreiheit wächst um Fingerbreite von 174 mm auf 184 mm. Die Oberkante der schnieken Sitzbank erreicht eine Höhe von 830 mm – Fahrer der Straßen-Interceptor reisen auf 805 mm Sitzhöhe. Was beide eint: Den Blinker muss der Fahrer selbst wieder ausschalten. Da bleibt sich Royal Enfield treu.
Mehr Federweg, famose Reifen
Neu ist das Showa-Fahrwerk. Vorn federt eine Upside-down-Gabel (43 mm), hinten gibt es Stereofederbeine mit einstellbarer Vorspannung. Die Federwege legen gegenüber der Interceptor genrebedingt zu: vorn von 110 auf 130 mm, hinten von 88 auf 115 mm. Vergrößert hat der indisch-britische Hersteller auch die hintere Bremsscheibe: Bei der Bear 650 misst sie 270 mm, bei der Interceptor 240 mm; vorn sind es jeweils 320 mm. Das Hinterrad-ABS ist per Taste an der rechten Lenkerarmatur abschaltbar. Auf weitere elektronische Assistenten verzichtet Royal Enfield: Traktionskontrolle oder Fahrmodi gibt es nicht, dafür neu entwickelte Scrambler-Reifen von MRF. Das indische Blockprofil überzeugt mit hervorragendem Grip und sehr komfortablem Abrollverhalten. Vorn trägt die Bear 650 Speichenräder in 19 Zoll, hinten in 17 Zoll. Wie es sich gehört für ein Reel-Steal-Bike mit Abenteu(r)er-Attitüde.
Formidable Fahrspaßmaschine
Unterm Strich springt dabei eine ganz formidable Fahrspaßmaschine heraus, die obendrein saugut aussieht. Fünf lässige Farbvarianten hat Royal Enfield angemischt. Jede verleiht der Bear 650 einen eigenen Charakter. Nach Deutschland kommen zum Start allerdings nur drei davon, womit wir auch gleich bei den Preisen wären: „Petrol Green“ startet bei 7.640,-- Euro, „Golden Shadow“ mit gülden eloxierter Gabel bei 7.790,-- Euro. Für einen Hunni mehr (ab 7.890,-- Euro) kann man das Editionsmodell „Two Four Nine“ ergattern. Es ist benannt nach Eddies Startnummer beim Big Bear Run. Den grünen Rahmen der „249“ schmückt ein weißer Tank mit stilisierter Zielflagge. Sehr stylisch – und nur zeitlich begrenzt erhältlich. Hinzu kommen zwei Farbvarianten mit blauer (!) Sitzbank in Handschmeichler-Ausfertigung (Kunstleder/Velours-Mix): Gelb-Weiß-Blau und Weiß-Orange-Blau. Wollen wir mal hoffen, dass die es auch zu uns schaffen über kurz oder lang. Verkaufsstart der Bear 650 ist im Februar 2025.
Souverän auf der Straße, robust auf Schotter
650,-- Euro beträgt der Preisaufschlag gegenüber der günstigsten Interceptor (ab 5.990,-- Euro), 400,-- Euro sind es bei den jeweiligen Topmodellen. Lohnt das? Meine Meinung: auf jeden Fall – allein schon vom Coolness-Faktor. Die Bear 650 sieht großartig aus und liegt absolut souverän auf der Straße. Ab dem ersten Meter stattet sie den Fahrer mit dem nötigen Urvertrauen aus, das man von einem „Modern Classic“-Motorrad heute erwarten darf. Die Bedienung erklärt sich von selbst. Die Bremsen packen gut kontrollierbar zu, ohne es mit zu viel Biss zu übertreiben. Speziell die Hinterradbremse gewinnt durch die größere Scheibe: Sie erübrigt oft den Griff zur Vorderradbremse und hilft am Kurveneingang dabei, die Bear 650 schön sauber in Schräglagen hineinzuzirkeln. Ein Kurven-ABS wäre natürlich eine feine Sache, rein für den Kopf, gleichwohl macht die zutrauliche Bear 650 nicht den Eindruck, als bräuchte sie eines.
Genügsamer Verbrauch
Überhaupt lässt sich viel mit dem Gasgriff steuern. Meist reicht „Gas weg“ und leichtes Aufrichten, um die gewünschte Geschwindigkeitsreduzierung vor Kurven zu erreichen. Nach dem Einlenken beschleunigt die Bear 650 dann munter und druckvoll heraus. Nie brutal, aber immer mit Lust und Laune. Arme lang zu ziehen verkneift sich die Bear 650 (wie ihre Geschwister auch), aber sie hängt willig am Gas. Das 6-Gang-Getriebe und die Kupplung harmonieren famos. Das Ziehen des Kupplungshebels erfordert keinerlei Kraftaufwand. Der Wunsch nach einem Quickshifter kommt so gar nicht erst auf. Der Verbrauch hält sich vornehm zurück: 4,2 Liter auf 100 Kilometer gibt Royal Enfield für die Interceptor an. 4,35 Liter waren es laut Bordcomputer bei unserem Bear-Ausritt durchs San Bernadino County. Die homologierten Daten lagen beim Fahrtest noch nicht vor.
Eine Frage der Größe
Das Fahren im Stehen ist eine Frage der Größe. Mit meinen knapp 1,80 Metern würde ich mir eine Lenkererhöhung wünschen beziehungsweise gönnen. Man steht für meinen Geschmack relativ nah am für Scrambler-Verhältnisse nicht üppig hohen Lenker, das schränkt den „Arbeitsplatz“ im leichten Gelände etwas ein. Anders sieht es aus, wenn man etwas kleiner ist; zwei Kollegen aus der 1,73er-Klasse hatten sichtbar Freude am Fahren im Stehen – auf Asphalt und bei einem kurzen Abstecher auf zerfurchten Schotter. Ungepflastertes Geläuf meistert die Bear 650 mit ihren grob profilierten Reifen grundsätzlich mit Bravour. Ausflüge in härteres Gelände sollte man sich gleichwohl gut überlegen. Hier geht es ums Kraxeln, nicht um echtes Klettern oder gar Extremsprünge. Letztere macht die grundsätzlich gelungene Federung dann doch nicht mit. Aber so etwas hatten die Jungs der 1960er-„Desert Race“-Szene ja auch nicht im Sinn. Außer „Fast Eddie“. Der hat in Hollywood Karriere gemacht als Stuntfahrer.