Die letzten schönen Tage im Jahr, im goldenen Herbst, bieten nicht nur eine Fülle von natürlichen Gelb-, Orange-, Rot- und Brauntönen, sondern zuletzt auch ungewöhnlich warme Temperaturen. Zu solch einer Jahreszeit noch ein Motorrad testen zu können ist in unseren Breitengraden, gerade im niederschlagsreichen Harz, eher ungewöhnlich. Der absolut wolkenlose Himmel erstrahlt in einem wahnsinnigen Ultramarinblau und lockt noch eine Menge Motorradfahrer in die freie Natur. Also werfe ich den Kugelschreiber auf den Schreibtisch, schlüpfe in die Klamotten und schließe mich der fahrenden Zunft an. Ich finde, solch eine Chance sollte man nutzen, um noch eine ausgiebige Runde Moped zu fahren. Zumal mich eine besondere Maschine in der Redaktionsgarage erwartet. Ich zähle nicht unbedingt zu den Freunden der bayrischen Boxerfraktion, aber die knallgelbe 1200er reizt mich schon seitdem wir sie am Liefertag von der Pappverpackung befreit haben. Daher werde ich unvoreingenommen an die Sache herangehen.

Auf dem Navihalter klebt ein Zettel mit der Aufschrift: „Vorsicht! Neue Reifen!“ – danke für den Hinweis. Der kleine Schalk in meinem Nacken will die Notiz mit folgendem Satz ergänzen: „Jetzt nicht mehr!“, wenn ich erst mal mit der BMW fertig bin. Nun gut, dann mache ich mich zuerst mit der Maschine vertraut. Modern sieht sie aus, endlich mit „richtiger“ Upside-Down-Teleskopgabel und herkömmlicher Blinkerbetätigung ausgestattet, aber mit einigen Ecken und Kanten, nicht so rundlich, barock wie die ältere Schwester. Die Neue schaut doch tatsächlich richtig dynamisch aus – schon mehr wie ein knackiges Nakedbike. Ich bin überrascht, die Formensprache trifft meinen Geschmack und das will wirklich etwas heißen. Optisch wirkt sie also um einiges hübscher als die über 50.000 Mal gebaute Vorgängerin, fast ein wenig „italienisch“ mit ihrem eleganten Gitterrohrrahmen. Und schlank ist sie, ein pures Nakedbike, selbst der dicke Boxermotor hält sich augenscheinlich etwas zurück. Das Heck wirkt schmal und eigenständig, die Seitenlinie kraftvoll und stark, von vorne fällt sogleich der coole Scheinwerfer mit dem LED-Knochen auf. Die Studie Concept Roadster von BMW stand hier unverkennbar Pate. Mir soll es recht sein, ich mag solche puren Motorräder. Solange die Tourentauglichkeit erhalten bleibt, steht auch ausgedehnten Runden nichts im Weg. Na, schauen wir mal. Vom hauseigenen Koffersystem über Tankrucksack und BMW- Navigation findet man zumindest das nötige Zubehör im BMW-Regal.

Cockpit – neu gestaltet
Das Cockpit wirkt hochmodern, die TFT-Anzeige aber auf den ersten Blick etwas unübersichtlich. Da sind zu viele Informationen, die erst einmal erkundet werden wollen. Hat man die Zahlen und Bezeichnungen erst einmal verinnerlicht, geht es mit der Übersicht schon etwas besser. Aber keine Angst – die Informationsflut kann auch gezielt angepasst werden. Im vollständigen Modus werden, wie der Name schon sagt, die relevanten Daten vollständig angezeigt. Ein sportlicher Modus, sowie die Option für reduzierte Informationen stehen dem Fahrzeuglenker ebenfalls zur Verfügung. Entsprechend konfiguriert und angepasst gefällt mir das Cockpit gleich viel besser.

Großen Anteil an der hervorragenden Fahrbarkeit hat zweifellos das semiaktive Fahrwerk: Dynamik ESA. Je nach Fahrbahnbeschaffenheit und Fahrzustand regelt es die Dämpfung in Bruchteilen von Sekunden nach. Als bequem abgestimmt erweist sich erwartungsgemäß der Roadmodus, genau das Richtige für geschmeidige Touren. Dynamisch geht die gleichnamige Einstellung zu Werke, straff und sportlich, genau so wie ich es erwartet habe.
Ganz ohne Kritik, wenn auch auf hohem Niveau, geht’s aber dennoch nicht. Kleine Schlaglöcher und kantige Unebenheiten (die Baustelle im Nachbarort) verhärten die Hinterhand doch recht schnell und so werden die Stöße reichlich ungefiltert an meinen Allerwertesten geleitet. Auffällig deshalb, weil die BMW auf dem restlichen Asphaltband sagenhaft ruhig und satt auf der Straße liegt und mir sofort ein ausgesprochen gutes und sicheres Fahrgefühl vermittelt, sodass ich beinahe die neuen Reifen vergesse. Nun erklärt sich auch die Notiz im Cockpit, also lieber mal ein bisschen vorsichtiger um die Ecken huschen. Einfach macht mir das die BMW allerdings nicht, Schräglagenwechsel jeglicher Art werden zum Kinderspiel. Die 1200er lässt sich um die Ecken zirkeln, wie eine leichte 600er. Fast schon so handlich wie eine Supermoto und irgendwie auch ein wenig verstörend. Besonders, wenn ich zwischendurch auf den Geschwindigkeitsmesser schaue – was man ja gelegentlich tun sollte – wird mir das ganze Potential der BMW erst richtig bewusst. Zu der exzellenten Handlichkeit tragen zweifellos auch die Carbonräder von HE-Carbon bei, die die ungefederten Massen reduzieren.

Klasse Bremsanlage – fantastische Wirkung und gut dosierbar
Bissfeste und standhafte 320mm Brembo-Bremsen verzögern im Zweifelsfall mit einer so brachialen Wirkung, dass sogar die fein ansprechende und sportlich abgestimmte Telegabel weit eintaucht. Die Bremse erfordert wenig Handkraft, überrascht mich mit einem guten Druckpunkt und zeichnet sich durch ein sehr fein regelndes und abschaltbares ABS aus. Das war bei BMW nicht immer der Fall, umso mehr erfreut es mich jetzt. Nichts anderes erwarte ich von einem Vierkolben Radialbremssattel. Hinten verrichtet übrigens eine 276 mm Scheibe mit einem Doppelkolben Schwimmsattel unauffällig, aber wirkungsvoll ihren Dienst.Am meisten in Erstaunen versetzt mich allerdings die Tatsache, dass ich keinerlei negative Einflüsse vom Sekundärantrieb verspüre. Der Kardan verhält sich so unauffällig, dass ich erst am Ende des Tages darüber nachdenke und mir beim besten Willen kein Kritikpunkt zu dem Thema einfallen will. Und wo ich nun schon bei „negativ“ bin – was mir immer noch nicht gefällt, ist der Klang des Boxermotors. Sicher – aus dem G.P.R.-Endschalldämpfer entweicht eine tolle Soundkulisse. Der typische, brummige Grundklang bleibt aber dennoch erhalten. Gott sei Dank ist das aber Geschmackssache und somit auch nicht testrelevant.

Ergonomisch habe ich an der BMW nichts auszusetzen. Mit meinen 180 Zentimetern Körpergröße passe ich perfekt auf das Motorrad. Der Lenker liegt gut in der Hand, für meinen Geschmack einen Hauch zu schmal, der Kniewinkel passt gut und auch die Sitzbank zeigt sich angenehm schmal geschnitten, sodass die Beine nicht zu weit gespreizt sind. Auch die aufrechte Sitzposition kommt mir sehr entgegen, keine Last auf den Handgelenken und kein krummer Rücken, beinahe schon ein wenig zu perfekt, der sportliche Roadster. Längeren Touren steht also nichts im Wege. Auch kleinere Motorradfahrer haben auf der BMW ein sehr sicheres Gefühl. Meine Kollegin findet ebenfalls keinen Grund zu klagen, möglicherweise liegt das ja auch an der Griffheizung...
Für alle Fälle hält BMW aber auch unterschiedliche Sitzhöhen parat. Die Seriensitzhöhe beträgt 790 mm, für Kleingewachsene besteht die Möglichkeit, die Sitzhöhe auf 760 mm zu reduzieren und für Leute mit langen Beinen halten die Bayern eine entsprechende Sitzbank mit Sitzhöhen von bis zu 840 mm bereit. Somit kann die 231 Kilogramm leichte Roadster (fahrfertig und vollgetankt) auch gut im Stand beherrscht werden. Die Zuladung (bei Serienausstattung) beträgt gute 219 Kilogramm, somit scheint die BMW auch für eine zünftige und ausgedehnte Wochenendtour gut gerüstet. Unser Testverbrauch lag beim Landstraßensurfen durch den Harz bei sehr moderaten 4,7 Litern auf hundert Kilometer. Das nutzbare Tankvolumen beträgt 18 Liter, wovon vier auf die Reserve entfallen. Tagesetappen von rund 300 Kilometern sollten somit problemlos ohne Tankstopp machbar sein.
