Als Motorradfahrer ist es grundsätzlich ratsam, mit offenen Augen und der Bereitschaft, Neues entdecken zu wollen, durchs Leben zu gehen und über die Straßen der Bundesrepublik zu rollen. Und weil das nicht nur wörtlich, sondern auch metaphorisch zu verstehen ist, kann hier nun der Bericht eines Motorradfahrers gelesen werden, der sich selbst immer die Attribute „sportlich“, „zügig“, „puristisch“ und „bescheiden“ zugeschrieben hätte und genau deshalb nie auf die Idee gekommen wäre, eine Gold Wing zu fahren. Keines dieser Attribute wird sich auf einem Biker-Treff widerspruchslos über die Honda Gold Wing sagen lassen und dennoch hat sie auf den fast 2.000 Testkilometern Argumente für jedes einzelne Wort geliefert. Wer also Lust hat, demnächst den Bikerstammtisch erst mit ein paar steilen Thesen aufzumischen und die Diskussion dann mit Fakten zu einem beliebigen Zeitpunkt auch beenden zu können, der sollte jetzt aufmerksam werden.
Der Erstkontakt mit dem Testobjekt beim Händler scheint meine persönlichen Vorurteile zu bestätigen. Motorräder werden umgeparkt und Flügeltüren geöffnet, um Platz fürs Rangieren der Gold Wing zu schaffen. Sie ist groß, sehr groß. Für die Honda GL1800 Gold Wing DCT, so ihr vollständiger Name, gibt die M&R-Motorraddatenbank eine Fahrzeuglänge von 2.475 mm und eine Breite von 925 mm an. Dazu kommt das Gewicht von (vollgetankt) 367 kg. Auf dem Papier schon ein Schwergewicht und auch beim Rangieren eine Liga für sich. Wir haben die schlichte, man könnte fast sagen „bescheidene“ Variante ohne die Bezeichnung „Tour“, also auch ohne Topcase und Rückenlehne für den Sozius. In Deutschland wird sie ausschließlich mit dem 7-Gang-DCT-Getriebe und in der Lackierung „Matt Armoured Green Metallic“ ausgeliefert. Klar, das ist alles Geschmackssache, aber der matte, metallisch schimmernde Anzug steht dem langgestreckten und optisch recht flachen Bike ausgezeichnet. Das riesige Cockpit punktet mit zentralem 7-Zoll-TFT-Farbdisplay, analogen Anzeigen für Tacho und Drehzahl sowie links und rechts kleineren LC-Anzeigen für Informationen zum Fahrzeug (Odometer, Trip A&B, Reichweite, Tempomat, Kühlwassertemperatur und Öffnungszustand der Koffer). Zentral vor dem Fahrer kann dann das Infotainment-System des japanischen Groß-Cruisers mittels Drehrad und Tasten bedient werden. Selbstverständlich hat die Gold Wing auch Lautsprecherboxen, die einem entweder die Navigationsansagen, Radio (FM & AM) oder Töne aus den per Bluetooth oder Kabel angeschlossenen Geräten ausspielen. Los geht’s ab 30.190,-- Euro ab Werk. Puh. Und noch keinen Meter gefahren.
Sicher, eine Gold Wing ist kein Sportler und die Lederweste passt sicher besser zur ihr als eine Lederkombi und dennoch sind die fahrerischen Möglichkeiten auf ihr erstaunlich groß. Zwischen entspanntem und gemäßigtem Landstraßen-Cruising im Fahrmodus „Tour“ und der zügigen Gangart im Modus „Sport“ sind alle Nuancen fahrbar. Die Sorgen meines sonst sehr geschätzten Freundes Frank um mein Seelenheil auf der Honda Gold Wing („Aber heul hinterher nicht rum, weil du nicht hinterherkommst“) dürfen als vollkommen unbegründet und widerlegt gelten. Im Gegenteil: Während ich mit jeder Kurve größeres Vertrauen in die sportlichen Ambitionen des 367-kg-Bikes bekomme und milde vom ausgesprochen komfortablen Fahrersitz lächle, werden Frank und seine Ténéré im Rückspiegel immer kleiner und in der Intercom immer stiller. War wohl nicht sein Tag. Und auch wer nur mit sich und seiner Gold Wing unterwegs sein wird, muss sich die Freude an Kurven nicht abgewöhnen. Die Schräglagenfreiheit ist nicht gigantisch, mit 30,5° aber groß genug, um nicht bei jeder Gelegenheit das Kratzen der Fußrasten hören zu müssen.
Für Vortrieb sorgt der Sechszylinder-Boxer mit 1.833 ccm Hubraum, 126 PS Leistung (bei 5.500 Touren) und satten 170 Nm Drehmoment (ab 4.500 Touren). Und nicht nur auf dem Papier ist das Drehmoment deutlich beeindruckender als die Leistung. Einmal am Gasgriff gedreht und der Motor entfaltet seine Kraft im Zusammenspiel mit dem 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe auf eine so kraftvolle und trotzdem fast „bescheidene“ Weise, dass man kaum merkt, wie zügig man deutlich jenseits der erlaubten Höchstgeschwindigkeit auf der Landstraße milde lächelnd dem Führerscheinentzug entgegencruist. Auf der Autobahn kann, bei entsprechendem Verkehr, getrost eine Reisegeschwindigkeit von 160 km/h und mehr über Stunden gehalten werden.
Hinter dem elektronisch bedienbaren Windschild bekommt man als Fahrer vom Wind ohnehin nichts mit, sondern kann sich dem Infotainment-Programm widmen. Ist das Headset verbunden, lassen sich auch bei höheren Geschwindigkeiten Telefongespräche führen oder Podcasts hören. Wer das Smartphone per Kabel und ein Headset mit der Honda koppelt, kann auch Apple CarPlay oder Android Car nutzen. Sollten die ersten beiden Argumente bisher nicht ausreichend zur Beendigung der Diskussion gewesen sein, helfen vielleicht nur noch unerhörte Provokation und der verdrehte Spruch „Mehr ist weniger“. Denn natürlich, die Honda Gold Wing ist schon ab Werk und bis unter die Tourenscheibe mit Ausstattung vollgepackt. Aber jede einzelne Funktion erleichtert dir als Fahrer das Leben, bis man sich am Ende wirklich nur noch um eine Sache kümmern muss. Schalten? DCT-Automatik. Schlechte Straßen? Pro-Link-Federbein am Hinterrad und eine irre gute Doppel-Längslenkerkonstruktion am Vorderrad. Bremsen? Die Kombination aus schwimmend gelagerten 6-Kolben-Bremszangen auf 320-mm-Doppelscheiben vorn und 3-Kolben-Bremszangen auf 316-mm-Scheibe hinten ankert das Schwergewicht zügig und vertrauenerweckend Richtung Stillstand.
Die Honda Gold Wing lässt es zu, wenn man sich als Fahrer darauf einlässt, in einen stundenlangen, fast meditativen Fahrzustand entgleiten zu können. Wem das zu langweilig ist, für den gibt es den Fahrmodus „Sport“ oder das Infotainment-System. Wer das Haar in der Suppe finden will, muss lange suchen und wird es vielleicht im zeitweise etwas ruppigen DCT, dem grundsätzlichen Fahrzeugkonzept schwerer Cruiser und in der Bagger-Optik oder in dem Preis finden.
Technische Daten Honda GL1800 Gold Wing DCT 2024 | |
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Nutzerbewertungen | |
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Bewertung | |
Preis-/ | |
Motor | |
Bohrung x Hub | 73 x 73 mm |
Hubraum | 1.833 ccm |
Zylinder, Kühlung, Ventile | Sechszylinder-Boxermotor, flüssigkeitsgekühlt, 4 Ventile pro Zylinder |
Abgasreinigung/-norm | Euro 5 |
CO2 Emissionen | 127 g CO2/km |
Leistung | 126 PS (93 kW) bei 5500 U/min |
Drehmoment | 170 Nm bei 4.500 U/min |
Verdichtung | 10,5:1 |
Höchstgeschwindigkeit | 180 km/h |
Wartungsintervalle | Erstinspektion nach 1.000 km, danach jährlich oder alle 12.000 km |
Verbrauch pro 100 km | 5 Liter |
Kraftübertragung | |
Kupplung | elektronisch-hydraulisch gesteuert, Scheiben im Ölbad (DCT) |
Schaltung | 7-Gang Doppelkupplungsgetriebe |
Sekundärantrieb | Kardanantrieb |
Fahrwerk & Bremsen | |
Rahmen | Druckguss-Aluminium-Doppelträgerrahmen |
Federelemente vorn | Doppel-Querlenker-Aufhängung |
Federelemente hinten | Zentralfederbein |
Federweg v/h | 110 mm / 105 mm |
Radstand | 1.695 mm |
Nachlauf | 109 mm |
Lenkkopfwinkel | 60 ° |
Räder | Gussfelgen |
Reifen vorn | 130/70R18 M/C |
Reifen hinten | 200/55R16 M/C |
Bremse vorn | 320-mm-Doppelscheiben, schwimmend gelagert, 6-Kolben-Bremszangen |
Bremse hinten | 316-mm-Scheibe, 3-Kolben-Bremszange |
Maße & Gewicht | |
Länge | 2.475 mm |
Breite | 925 mm |
Höhe | 1.340 mm |
Gewicht | 367 kg (fahrfertiges Gewicht) |
zul. Gesamtgewicht | 570 kg |
Maximale Zuladung | 203 kg |
Sitzhöhe | 745 mm |
Standgeräusch | 88 dB(A) |
Fahrgeräusch | 70 dB(A) |
Tankinhalt | 21 Liter |
Fahrerassistenzsysteme | Kurven-ABS, schräglagenabhängige Traktionskontrolle, Fahrmodi, Reifendruckkontrollsystem, semiaktives Fahrwerk, Tempomat, Berganfahrhilfe |
Fahrzeugpreis ab | 30.990 € inkl. Nebenkosten |