Immer wieder ernte ich erstaunte Blicke, wenn ich erzähle, dass ich statt eines Autos ausschließlich ein Motorrad für den Alltag nutze. Und zwar von Autofahrern und Motorradfahrern gleichermaßen. „Das könnte ich nicht!“, „Und im Winter?“, „Der Regen würde mich ja nerven …“. Ja, mich nervt der Regen genauso wie das klamme Gefühl selbst in der dicksten Winterkombi, wenn ich bei Temperaturen um den Gefrierpunkt eine längere Strecke auf zwei Rädern hinter die Maschine und mich gebracht habe. Besonders ätzend ist es, wenn Kälte und Nässe zusammenkommen. Und doch habe ich noch keinen Meter bereut, den ich statt mit einem Auto, im Trockenen und Warmen, auf dem Motorrad, den Launen der Natur ausgesetzt, bewältigt habe. Und das hat Gründe, die ich mit einem nicht immer ganz objektiven Alltagstest ausführen möchte.
Das Motorrad
Nach den Lockdowns im Frühjahr 2020 hatte ich mir vorgenommen, im September 2020 eine größere, mehrwöchige Europareise auf dem Motorrad zu unternehmen. Sicher keine Tour, die ich meinem damaligen Daily, einer BMW K1100 RS, Baujahr 1995, noch zumuten wollte. Zumal sich dort, trotz tadelloser Pflege aller Vorbesitzer, erste Alterserscheinungen bemerkbar machten. Nach ein paar Probefahrten durch sämtliche Preiskategorien der alltagstauglichen Tourer und Sporttourer fiel die Wahl schnell auf eine weiße Kawasaki Versys 1000. Die Basisversion. Einen Satz Koffer, Handschutz und die Navi-Vorbereitung konnte ich noch reinverhandeln und eine Woche später nahm ich sie dann für ziemlich günstige 11.000,-- Euro in Empfang.
Die nüchternen Fakten: vier Zylinder mit 120 PS Leistung, 102 Nm Drehmoment und Ride-by-Wire-Gasgriff mit Tempomat. Eine mit Werkzeug einstellbare 43-mm-Upside-down-Gabel vorne und ein per Drehrad einstellbarer Gasdruckdämpfer am Hinterrad bilden das Fahrwerk. Verzögert wird die Versys von einer 310-mm-Doppelscheibenbremse mit Vierkolben-Bremssattel vorne und einer 250-mm-Bremsscheibe mit Einkolben-Sattel hinten. Insgesamt bringt die Versys fahrbereit 253 Kilogramm auf die Waage.
Wandler zwischen den Welten
Der Name Versys ist vom englischen Wort für vielseitig, versatile, abgeleitet und dass Kawasaki ein vielseitiges Motorrad bauen wollte, merkt man schon bei der ersten Fahrt. Doch wie fährt sie sich? Man spürt das amtliche Gewicht tatsächlich nur beim Rangieren. Sobald sie aus eigenem Antrieb rollt, ist sie ausbalanciert, wendig und fühlt sich bedeutend leichter an, als die mit Fahrer fast 350 Kilo Gesamtgewicht vermuten lassen. Der Vierzylindermotor lässt sich dabei dank der Steuerung der Doppel-Drosselklappen präzise bedienen. Zusammen mit dem elektronischen Gasgriff entscheiden Fahrer und Steuergerät, wie sanft oder sportlich es nach vorne gehen soll. Die Bandbreite, die einem die Versys anbietet, reicht vom entspannten Mitschwimmen im Alltag, 6. Gang, 50 km/h, bis zum krawalligen Herausbeschleunigen aus der Kurve bis zum Drehzahlbegrenzer (ab 10.000 U/Min). Grob gesagt fährt man bis 4.500 U/Min einen gutmütigen, japanischen Mittelklasse-Tourer, bis 6.000 U/Min hat man Zeit zum Nachdenken, ab 6.000 U/Min zeigt sich, dass der Motor auch in der deutlich sportlicheren Ninja 1000SX verbaut ist. Die Kawasaki Versys ist da ein Wandler zwischen den Welten. Unauffällig und zurückhaltend bei niedrigen Drehzahlen und sanfter Bedienung des Gases, sportlich, kraftvoll und beinahe nervös, sobald man sich dem roten Drehzahlbereich nähert. Der Verbrauch hat sich bei mir nach knapp 27.000 Kilometern bei 6,1 Litern auf 100 Kilometern eingependelt. Das ist verhältnismäßig viel, liegt aber auch daran, dass das vorrangige Einsatzgebiet eben der Stadtverkehr und Pendelbetrieb ist. Auf längeren Strecken über Landstraßen gönnt sich der Motor auch bei sportlichster Fahrweise nicht mehr als 5,5 Liter.
Alltagswelt
Was für viele das Auto ist, ein Mittel zum Zweck, um von A nach B zu kommen, ist bei mir eben das Motorrad. An Punkt A aufsteigen, um nach der Fahrt entspannt, zuverlässig und sicher an Punkt B wieder absteigen zu können. Und das kann die Versys wie kaum eine andere. Die entspannte, aufrechte Sitzposition auf 840 mm Sitzhöhe sorgen für einen guten Überblick und im Zusammenspiel mit Fahrwerk und Motor für den nötigen Komfort im Alltag und beim Pendeln. Gold wert im Alltag ist das Kofferset. Zweimal 28 Liter Volumen lassen einen Klapphelm ebenso verschwinden wie den Wocheneinkauf eines gefräßigen Singles oder eines sparsamen Pärchens. Auch die Sporttasche, der Rucksack oder der Laptop lassen sich einfach verstauen. Schön sind die Koffer nicht, aber gleich groß, durch eine clevere Verriegelung am Rahmen einfach zu befestigen oder zu entnehmen und mit den dazugehörigen Innentaschen auch für kürzere Reisen geeignet.
Auf Reisen die Welt erkunden
Die eingangs erwähnte Reise habe ich im Spätsommer 2020 dann leider nicht gemacht. Angesicht der damaligen Diskussionen um erneute, gerne auch spontane Grenzschließungen und verschärfte Covid-Maßnahmen verließ mich dann der Mut, bis zur portugiesische Algarve zu fahren. In den ersten Wochen wurden die Mosel, Luxemburg, Holland und Belgien erkundet. Und was für eine Freude das auf diesem Motorrad war. Mit vollgepackten Koffern und einer quer hinter dem Soziussitz befestigten Gepäcktasche ist nicht nur räumlich Platz für eine Sozia, auch die maximale Zuladung von 220 Kilogramm wird bei vollen Koffern und mit zusätzlicher Person nicht ansatzweise erreicht. Die erste längere Reise führte mich erst später ans sprichwörtliche Ende der Welt, Finistère in der Bretagne. Wie schön der Nordwesten Frankreichs sein kann, ist natürlich kein Geheimnis mehr und deshalb fuhr ich die knapp 1100 Kilometer bis zum Ziel in zwei Tagesetappen, vermied dabei die Autobahnen und touristische Hotspots und suchte mir den Weg über Land- und Kreisstraßen. Auch an Saint Malo und Rennes vorbei.
Gerade kleinere Straßen sind in Frankreich gerne mal etwas holprig. Weniger sind es dabei Schlaglöcher als vielmehr unebener Asphalt und teilweise starke Verschmutzungen. Die Versys und ihr Fahrwerk könnte es nicht weniger interessieren. Wenn man sich das hintere Federbein per Drehrad seinen Vorlieben entsprechend auf Beladung und Komfort eingestellt hat, merkt man zwar, dass man da wohl gerade über eine Bodenwelle gefahren ist, in Wallung bringt es Ross und Reiter aber nicht. Auch die Stabilität in Kurven und beim engen Rangieren in Städten vermittelt jederzeit das Gefühl, Herr über die Maschine zu sein. Egal, ob mit oder ohne Sozia und Gepäck. Am Reiseziel angekommen und mit entfernten Koffern kann die Versys dann im Handumdrehen für Ausflüge, Ausfahrten ohne Gepäck und Städtetrips genutzt werden. Komfort und Wetterschutz erlauben auch leichte Bekleidung, die sich für den Besuch von Sehenswürdigkeiten, auch den treppenreichen, wie Mont Saint Michel oder Stadtzentren eignen. Einzig von Geschwindigkeiten jenseits der 170 km/h, selbstverständlich nur auf deutschen Autobahnen, mit Gepäck möchte ich abraten. Dann neigt die Versys dazu, sich sehr unangenehm aufzupendeln und zu vibrieren. Davon abgesehen braucht man sich auch vor langen Etappen auf den Autobahnen Europas nicht zu fürchten. Der mit zwei Drehrädern fixierte Windschild kann frei arretiert werden und ermöglicht zumindest kleineren Fahrern, den Winddruck am Helm fast komplett zu eliminieren. Bei meinen 1,80 m und dem Standard-Windschild reicht das leider nicht ganz, sodass ich es grundsätzlich auf der untersten Position fixiere, um Windverwirbelungen am Helm zu vermeiden. Die sehr angenehme Ergonomie, die breite und gut gepolsterte Sitzbank, der Tourenlenker und ein Tempomat lassen dann auch viele Stunden Autobahn nicht zur Folter, sondern zur Routine werden.
Wartung, Reparaturen, Fixkosten
Reparaturen waren bisher keine fällig, lediglich Verschleißteile wurden ausgetauscht und die Inspektionen nach 1.000 km, 12.000 km und 24.000 km durchgeführt. Die Kosten dafür lagen mit jeweils um die 300,-- Euro im Rahmen. Im Rahmen der ersten 12.000-km-Inspektion gab es auch einen Satz neuer Reifen und ich wechselte von der ordentlichen Serienbereifung mit dem Bridgestone T 31 R auf den etwas sportlicheren Pirelli Angel GT2. Bei zurückhaltender Fahrweise und ohne thermische Höchstbelastung durch sehr sportliche Fahrten bei über 35 Grad Luft- und entsprechender Asphalttemperatur hält dieser Reife zwar ebenfalls knapp 12.000 Kilometer, ist dann aber wirklich an seiner Grenze angekommen. Schweres Bike und hohe Kräfte bedeuten eben hohen Verschleiß. Auch die Bremsbeläge waren zur zweiten Inspektion am Ende ihrer Kräfte, was nach 24.000 Kilometern ebenfalls im Rahmen ist. Den Austausch habe ich dann selbst gemacht, sodass dort nur die Kosten für die neuen Beläge anfielen, also etwa 130,-- Euro. Auch die alle 12.000 Kilometer empfohlenen Öl- und Ölfilterwechsel lassen sich gut selbst erledigen. Hier fallen pro Wechsel etwa 50,-- Euro insgesamt für Öl und Filter an.
Wann?
Was?
Wie viel?
1.000 Kilometer
Erstinspektion
ca. 300,-- Euro
12.000 Kilometer
Inspektion, Reifenwechsel, Öl- und Ölfilter wechseln
ca. 700,-- Euro
24.000 Kilometer
Inspektion, Reifenwechsel, Öl- und Ölfilter wechseln, Bremsbeläge erneuern, TÜV
ca. 970,-- Euro
Insgesamt
1.970,-- Euro
Insgesamt hat mich die Versys in zweieinhalb Jahren also knapp weniger als 2.000,-- für Wartung, Reparaturen, Inspektionen und TÜV gekostet. Die Kosten für Versicherung (278,-- Euro jährlich, Haftpflicht) und Steuer (77,-- Euro jährlich) für 2 volle Jahre betragen noch einmal 710,-- Euro. Das ergibt für zwei volle Jahre Betriebskosten von insgesamt 2680,-- Euro oder 111,66 Euro monatlich an Fixkosten. Und um noch präziser zu sein: Für etwa 3,70 Euro bekommt man kein Auto, mit dem man sowohl den Alltag als auch Urlaube und einen Großteil seiner Freizeit gerne bestreitet.
Fazit
Nach jetzt genau 30.280 Kilometern darf sich Kawasaki bestätigt sehen. Die Versys ist vielseitig, alltagstauglich, auf Wunsch ein rollender Wohnzimmersessel oder in der Lage, mit Sportlern und Reiseenduros mit mehr Leistung und höherem Preis, liebe Grüße nach München, Österreich und Italien, mitzuhalten. Die großen Koffer, das auch im Standardmodell einstellbare Fahrwerk und die Ergonomie lassen große Reisen und lange Fahrten ebenso zu wie die kurze Fahrt zum Supermarkt. Sie wird in keiner Kategorie jemals die absolute Spitze sein, außer in der für Menschen ohne Auto wichtigsten: Vielseitigkeit und Alltagstauglichkeit. Die Kawasaki Versys ist ein Wandler zwischen den Welten.