Moto-Guzzi-Fahrer gelten im Motorradkosmos als ausgesprochen treue und hartgesottene Markenfans. Die italienischen V2-Triebwerke mit ihren seitlich nach oben herausragenden Zylindern sind für sie der Inbegriff der Motorkultur. Dass die Technik der Maschinen mittlerweile überaus angejahrt ist, egal – auch das Gros der Fahrer ist eher grau meliert. Die Ankündigung, zum runden Firmenjubiläum ein komplett neues Bike auf den Markt zu bringen und dazu noch das modernste, das jemals die ehrwürdigen, charmant marode anmutenden Werkshallen in Mandello del Lario verlassen hat, sorgte folglich für erhöhte Aufmerksamkeit in der Szene. Teils sogar für Euphorie. Und das – so viel sei vorweggenommen – völlig zu Recht.
Semiaktives Öhlins-Fahrwerk Smart EC 2.0
Die neue Moto Guzzi V100 Mandello ist ein großer Wurf – optisch wie technisch und erst recht fahrdynamisch. Komplett neuer Motor, modernes Elektronikpaket mit Sechs-Achsen-IMU, LED-Scheinwerfer mit Kurvenlicht, erstmals adaptive Aerodynamik – da geht was. Die neue Guzzi spielt auf Anhieb ganz oben mit bei den „Her damit“-Bikes. Aber der Reihe nach. Zwei Versionen bietet Moto Guzzi an: die konventionell gefederte V100 Mandello und die für den Pressetest bereitgestellte V100 Mandello S mit elektronischem Fahrwerk. Das stammt von Öhlins und trägt den wohlbekannten Namen Smart EC 2.0 – beste Ware also. Das semiaktive State-of-the-Art-Fahrwerk kommt bei namhaften Superbike-Herstellern zum Einsatz und verhilft hubraumstarken Straßenrennern wie Triumph Speed Triple 1200 RR und Ducati Streetfighter V4 S zu überragenden Fahreigenschaften.
Echtzeitabstimmung auf Fahrbahnzustand
Auch in der neuen V100 Mandello S überzeugt es auf ganzer Linie. „Das System kann den Asphalt quasi lesen und die Abstimmung der Maschine in Echtzeit an die Fahrbahngegebenheiten anpassen“, schwärmt Fabio Gilardenghi, oberster Kommunikator bei Konzernmutter Piaggio, über das erste jemals bei Moto Guzzi verbaute elektronische Fahrwerk. Bei der konventionell gefederten V100 Mandello kommen Federelemente von Kayaba zum Einsatz: Vorn setzt Moto Guzzi auf eine Upside-down-Gabel mit einem Gabelrohrdurchmesser von 41 Millimetern, hinten stützt ein Monofederbein die Schwinge gegen den Rahmen ab. Beide sind in Federvorspannung und Zugstufendämpfung einstellbar und sollen „Fahrbahnunebenheiten souverän meistern“, verspricht Moto Guzzi.
Erstes Motorrad weltweit mit adaptiver Aerodynamik
Überprüfen konnten wir das beim ersten Fahrtermin am Comer See zwar nicht, aber das Gesamtkunstwerk V100 Mandello liefert auf der ersten Ausfahrt wenig bis keinen Anlass dazu, an dieser Aussage zu zweifeln. Die 1921 gegründete Traditionsschmiede hat sich mächtig ins Zeug gelegt für ihr neues Topmodell. Als erstes Motorrad weltweit kommt die neue V100 Mandello bekanntlich mit dem Serienfeature „adaptive Aerodynamik“. Rechts und links am Tank klappen je nach gefahrener Geschwindigkeit und gewähltem Fahrmodus zwei Deflektoren aus und stellen sich kühn in den Fahrtwind. Bei Regen soll das den Fahrer unter anderem besser vor Witterungs-Ungemach schützen. Bei uns blieb es trocken, insoweit lässt sich das an dieser Stelle nicht beurteilen. Bleibt der Effekt bei teils flotter Landstraßenfahrt; auf eine Autobahn verschlug es uns nicht.
Motorräder: Aprilia RS 660 Extrema – Sportler mit Ambitionen, BMW R 1250 R & BMW R 1250 RS, Brixton Concept Storr 500, Cake Bukk – Elektrische Gewitterwolke, Ducati Scrambler & Multistrada V4 Rally, Fantic Caballero 700 – Caballero Zeh-Peh-Zwo, Moto Guzzi V9 Bobber Special Edition, Honda CMX1100T Rebel, CL500 & XL750 Transalp, Comeback: Peugeot Motocycles PM-01, Indian FTR-Modellreihemehr 2023, Royal Enfield Super Meteor 650, Suzuki GSX-8S & V-Strom 800DE, Yamaha 2023: Ténéré 700, Ténéré 700 Rally Edition, MT-125, Tracer 7, Tracer 7 GT, Tracer 9 GT+, MT-07, Niken GT & XSR700, Triumph Chrome Collection 2023, Gesichtet: BMW R 1300 GS Fahrtests: BMW M 1000 R – Ein Hauch von Wahnsinn, Moto Guzzi V100 Mandello – Guzzis ganzer Stolz, Honda CB750 Hornet – Kibi-Kibi-Bike, Mehr Windschutz für die KTM 890 Adventure, Dauertest: Harley-Davidson Pan America, Kawasaki Ninja H2 SX SE – Stilvoll angasen Roller: Honda X-ADV, Forza 750 & EM1 e, Vespa Primavera, 946 & GTV – Roller-Neuheiten Touren & Reisen: Gran Canaria – Inselparadies zum Motorradfahren, Österreich vom Allerfeinsten – Schmankerl-Tour, Israel – Eine Reise nach Jerusalem Tests & Zubehör: Lederjacke: Dainese Atlas, Integralhelm: AGV X3000, Wunderlich Koffertoptaschen „BagPacker II“, Cardo Kommunikationssystem für UCS-Helme Magazin: EICMA 2022 – Rette sich, wer kann, KTM Adventure-Modelle 2023
Preis: 5,90 €
Die Deflektoren machen sich ab circa 90 km/h bemerkbar
Mit Gore-Tex-Touringhose bekleidet, machen die geöffneten Deflektoren bei moderatem Tempo (50 bis 80 km/h) und angenehmen Temperaturen (14 bis 21 Grad) keinen spürbaren Unterschied aus, was den Fahrtwind betrifft. Ab circa 90 km/h, bilde ich mir ein, zieht es dann weniger auf der Oberseite der Oberschenkel. Darunter verpufft der Effekt, meinten auch Kollegen vor Ort. Ab welchem Tempo sich die Deflektoren öffnen, kann der Fahrer übers Bordmenü selbst bestimmen. Der konfigurierbare Tempokorridor liegt bei 30 bis 95 km/h. In der Grundeinstellung sind 70 km/h vorgesehen. Fällt die Geschwindigkeit um wenigstens 20 km/h, fahren die Deflektoren lautlos wieder ein. Und wieder aus, sobald das Tempo erneut anzieht.
Vier voreingestellte und fein justierbare Fahrmodi
In der Werkseinstellung ist die Aerodynamik-Spielerei zwei der vier Fahrmodi vorbehalten: Jeder bietet drei Motorkennfelder, vier Traktionskontrolle-Stufen, zwei Motorbremsmomente sowie die Funktion für das Öffnen und Schließen der Deflektoren. Im Rain-Modus sind sie permanent geöffnet, im Tour-Modus öffnen sie sich ab der gewählten Geschwindigkeit. In den Fahrprogrammen Sport und Road bleiben die Deflektoren werksseitig geschlossen. Aber wie zuvor erwähnt: Alles konfigurierbar über das recht eingängige Menü, das über die linken Bedientasten angesteuert wird. Die rechte der vier Tasten dient zum Wechsel der Menüpunkte. Über die beiden mittleren Tasten kann dann beispielsweise das elektrische Windschild um bis zu neun Zentimeter in die Höhe gefahren oder die dreistufige Griffheizung aktiviert werden.
Mehr Elektronik gab es bei Moto Guzzi noch nie
Die Fahrmodi werden rechts am Lenker auf Knopfdruck gewechselt. In die Unterpunkte zur Einstellung der Fahrmodi gelangt man nur im Stand. Das Superhirn der neuen Guzzi umfasst unter anderem die elektronische Drosselklappensteuerung Ride-by-Wire für die präzise Abstimmung von Leistung und Verbrauch, die Steuereinheit Marelli 11MP und die Sechs-Achsen-Inertiaplattform (IMU). Letztere ist durch ihre Beschleunigungsmesser und Gyroskope in der Lage, die Position der Maschine im Verhältnis zur Fahrbahn zu erkennen und so das Potenzial von Assistenzsystemen wie dem schräglagenabhängigen Kurven-ABS voll auszuschöpfen und ein Maximum an Sicherheit zu gewährleisten.
Souveränes Fahrwerk, hohe Fahrdynamik, großer Fahrspaß
Als Fahrer bekommst du von all dem Datenverkehr herzlich wenig mit. Die V100 Mandello S fährt herrlich unaufgeregt und souverän. Draufsetzen, Gas geben, wohlfühlen. Motorrad fahren kann so einfach sein. Und einfach schön. Das liegt natürlich auch am neuen 90°-V2-Motor, der laut Gilardenghi „nicht ein einziges Bauteil mit den bisher in Mandello gefertigten V2-Motoren gemeinsam hat“. Kompakt, flüssigkeitsgekühlt, 1.042 ccm, 115 PS, 105 Nm. Die je vier Ventile pro Zylinder werden über je zwei obenliegende Nockenwellen mit Kipphebeln und Steuerkette betätigt.
Kardanwelle in linksseitig geführter Alu-Einarmschwinge
Die Massenträgheitskräfte konnte Moto Guzzi im Vergleich zum alten 1200-V8-Motor halbieren. Eine Ausgleichswelle vermeidet Lastwechselreaktionen. Der altbekannte „Boxer-Schlag“ nach rechts im Stand hat sich erledigt. Willkommen in der Moderne. Auch in puncto Kardan: Die für Moto Guzzi typische Kardanwelle ist in die jetzt linksseitig geführte Aluminium-Einarmschwinge integriert. Diese kommt mit einem Kardangelenk am Drehpunkt der Schwinge aus und erlaubt dank eines neu positionierten Kegelrads – 84° statt der bei anderen Moto Guzzi üblichen 90° – einen breiteren Hinterreifen (190/55).
Zylinderköpfe der V100 Mandello um 90 Grad gedreht
Die Zylinderköpfe des mitragenden Motors hat Moto Guzzi um 90 Grad gedreht. Das sieht auf den ersten Blick ungewohnt aus, schafft aber mehr Platz im Kniebereich und erleichtert die Anordnung der Ansaugkanäle und der Komponenten der elektronischen Einspritzanlage. 82 Prozent des maximalen Drehmoments liegen bereits bei 3.500 Touren an. Satt und kernig dreht die V100 Mandello nach oben. Bei 9.500 Touren schlägt der Drehzahlbegrenzer zu. Aber so hoch hinaus muss ohnehin keiner auf der neuen Guzzi. Der neue V2 macht auch bis 6.000 Touren mächtig Spaß. Und wird bald auch andere Maschinen von Moto Guzzi antreiben. Eine V100 TT gilt als abgemacht. Der Sound ist eleganter, mancher könnte sagen „dünner“, als vermutlich von eingefleischten Guzzi-Fans erwartet. Ansichtssache. Mir gefällt das sonore Bollern.
Die V100 fährt mit der Grandezza eines Granturismo
Die Brembo-Bremsanlage greift vorn beherzt zu und hinten fein dosiert ein. Das Fahrwerk bügelt Asphaltnickeligkeiten mit wahrer Grandezza aus. Ein echter Granturismo. Immer genug Leistung, herrlich fahraktiv, aber nie übertrieben auf dicke Hose machen – das ist das Credo der V100 Mandello. „Der Charakter eines Roadsters. Die Seele eines Tourers“, wirbt Moto Guzzi auf seiner Modellwebseite. Soll heißen: „Die V100 Mandello verbindet Sport und Reisen, die typischen Werte, die seit jeher zur Tradition von Moto Guzzi gehören“, so Fabio Gilardenghi. Sie schlägt in jeder Weise ein neues Kapitel auf: Kompakt gebaut und sportlich, dynamisch im Fahrverhalten wie ein Top-Roadster, und dabei bietet sie dank ihrer technologischen und aerodynamischen Lösungen den Komfort und den Schutz eines Tourers.“
Quickshifter serienmäßig bei der V100 Mandello S
Der S-Version spendiert Moto Guzzi ab Werk einen Quickshifter, für die V100 gibt es den Schaltautomaten gegen Aufpreis. Bei zwei der drei Testbikes funktionierte er vorzüglich, bei einem haute die Feinabstimmung nicht ganz so gut hin, vorwiegend zwischen dem ersten und zweiten sowie zweiten und dritten Gang. Einstellungssache. Zwischen 3.000 und 5.000 Touren macht er seine Sache rauf wie runter wirklich gut. Alternativ kann natürlich jederzeit die erstmals bei einem Moto-Guzzi-V2-Motor verwendete hydraulische Mehrscheiben-Antihopping-Kupplung im Ölbad bemüht werden. Laut Gilardenghi ist sie robuster, zuverlässiger, kompakter und leichter als die bisher verwendeten Einscheiben-Trockenkupplungen.
Patentiertes neues Koffersystem
233 Kilogramm bringt die neue Guzzi laut Datenblatt fahrbereit auf die Waage. Wenig für einen Tourer, okay für einen Roadster. So oder so merkt man ihr das Gewicht nicht an: Die V100 Mandello ist fein ausbalanciert. Dank der moderaten Sitzhöhe von 815 mm bekommen Normalgroße beide Füße locker auf den Boden. Im Zubehör gibt es alternativ eine flachere (800 mm) und eine höhere Sitzbank (835 mm). Alle drei bieten hohen Komfort und für den Fahrer eine optimale Abstützung nach hinten. Perfekt eingepasst sind die optionalen Seitenkoffer. Sie werden einfach in je zwei Öffnungen rechts und links gesteckt und über die abgeschlossene Sitzbank gegen Diebstahl gesichert.
Rund 360 Kilometer Reichweite mit einer Tankfüllung
17 Liter fasst der Tank. Moto Guzzi gibt einen Verbrauch von 4,7 l/100 an, macht theoretisch 360 Kilometer ohne Tankstopp. Sportlich gefahren, dürfte die V100 Mandello bei rund 5 l/100 km liegen, so zumindest der Testverbrauch am Comer See. Vier Farbmixe hat Moto Guzzi anfangs vorgesehen. Die V100 S gibt es in „Grün 2121“ und „Grau-Avantgarde“, beide haben mattschwarze 17-Zoll-Felgen. In „Rot Magma“ und „Weiß Polare“ kommt die V100 mit gold-satinierten Felgen daher. Der Preis startet bei 15.499,-- Euro für die V100, die V100 S gibt es ab 17.999,-- Euro. Beide sollen ab November 2022 bei den Händlern sein. Im März 2023 folgt dann noch das Sondermodell Moto Guzzi V100 Mandello Aviazione Navale (ab 16.999,-- Euro).
Fazit
Mit der neuen V100 Mandello ist Moto Guzzi ein fast perfektes Motorrad gelungen. Eine banale Kleinigkeit hat Piaggio aber auch hier vergessen, bei aller Fortschrittlichkeit: selbst zurückstellende Blinker. Die hätte ich an einem Bike, das mit Innovationen wie adaptiver Aerodynamik glänzt, echt erwartet.