Das Mutlitalent, die Ducati Multistrada 950, soll für alle Straßen gemacht sein, ein Allrounder und nicht so abgehoben wie die Multistrada 1200 Enduro.
Jeder kennt das berühmte Schweizer Messer, das praktisch alles kann: Brot schneiden, Dosen öffnen, Schrauben lösen oder anziehen, kleine Werkstücke sägen und vieles mehr. Diese umfassende universelle Einsetzbarkeit hat sich still und heimlich aus unserem Alltagsleben verabschiedet, für jeden Zweck gibt es Spezialprodukte. Von diesem scheinbaren Zwang zur singulären Funktionalität hat sich der Motorradbereich anstecken lassen – es gibt Bobber, Cruiser, Custombikes, Chopper, Reise- und Hardenduros, Urban Bikes und noch vieles mehr. Das gute alte Motorrad, das die Entwickler für mehrere Einsatzbereiche konzipiert haben, muss man fast mit der Lupe suchen.
Das Multitalent aus Bologna
Eine solche Ausnahme ist die Ducati Multistrada 950, die ihre Universalität sogar im Namen führt: Für alle Straßen soll die Schöne aus Bologna gemacht sein, ein Allrounder und nicht so abgehoben wie die Multistrada 1200 Enduro. Das dokumentiert die moderate Motorisierung mit 113 PS und das überschaubare Elektronikpaket, was sich auch preislich auswirkt: Die kleine Italienerin kostet 13.190,-- Euro, während die große Enduro gleich 20.000,-- Euro aus dem Portemonnaie zieht. Dafür bekommt man mit dem 937 ccm großen Testastretta-90-Grad-V einen Antrieb, dessen Daten vernünftig klingen: 113 PS bei 9.000 U/min und ein maximales Drehmoment von 96,2 Nm bei 7.750 U/min reißen zwar keine Bäume aus, doch mit mehr als 80 Prozent des maximalen Drehmoments zwischen 3.500 und 9.500 Touren ergibt sich ein unheimlich breites nutzbares Drehzahlband. Ab 2.500 U/min lädt der Desmo-Twin in jedem Gang sauber durch und erspart durch die füllige Drehzahlmitte viele Gangwechsel. Was eigentlich nicht nötig ist, denn das Sechsganggetriebe funktioniert geschmeidig mit exakt rastenden Zahnradpaaren, eine Servo-Unterstützung nimmt der Kupplungshand viel Mühsal und die Anti-Hopping-Funktion fördert Fahrkomfort und Sicherheit, indem sie lästiges Hinterradstempeln beim aggressiven Runterschalten vor der Kurve verhindert. Der in seinen Grundzügen vom Funbike Hypermotard 939 abstammende Treibsatz erfreut darüber hinaus mit sanftem Lauf und sauberen Reaktionen auf Gasgriffänderungen, der Desmo-V kann mit seinem rundum gelungenen Charakter überzeugen.
Auf Fahrerwunsch agiert der V2 noch geschliffener dank der vier verschiedenen Riding Modes, die das Ansprechverhalten des Motors, die Traktionskontrolle und das ABS entsprechend dem gewählten Modus – Touring, Sport, Urban und Enduro stehen zur Verfügung – ändern. Alle beeinflussten Parameter können vom Fahrer weiter feinjustiert werden, was auch nach Abschalten der Zündung gespeichert bleibt. Die korrekte Bedienung setzt allerdings ein intensives Studium der Fahrzeuginformationen voraus – die Konfiguration des Bordcomputer-Menüs über die Tasten am linken Lenkerende ist alles andere als selbsterklärend. So kompliziert die Menüführung, so eingängig und freudvoll gestaltet sich das Fahrerlebnis. Was an den vergleichsweise leichten 227 Kilogramm fahrfertigem Gewicht und an der gelungenen, sehr harmonischen Grundabstimmung der ehrlichen Federelemente liegt, die es mit nicht übertrieben langen Federwegen zu tun haben. Damit flitzt die Multistrada 950 beschwingt durchs Kurvenareal, ohne bei der sprichwörtlichen Ducati-Stabilität eingebüßt zu haben. Das 19-Zoll-Vorderrad sorgt für ein präzises Lenkverhalten, die Pirelli Scorpion Trail II-Pneus erlauben Korrekturen in jeder Lage, und das 17-zöllige Hinterrad liefert ausreichend Grip für knackiges Angasen.
Zu dieser Gangart passen die Radial-Festsattelzangen mit 320er-Bremsscheiben im Vorderrad ausgezeichnet, die von der 1200er-Multi übernommene Bremse arbeitet sehr effektiv bei guter Dosierbarkeit – fast sogar ein wenig zu bissig für die komfortabel abgestimmte Kayaba-Gabel. Etwas straffer abgestimmt, ist dieses Problemchen schnell beseitigt. Wer Gepäck mitnehmen oder zu zweit unterwegs sein möchte, freut sich über die praktische hydraulische Vorspannung des Federbeins. Für den Zweierbetrieb ist das Ambiente nämlich ganz gut geeignet, noch übertroffen von den Räumlichkeiten im Solobetrieb: In 840 Millimetern Höhe nimmt die 950er nahezu jede Statur so bequem auf, dass man den großen 20-Liter-Tank ohne Zwangspausen leer fahren kann. Geschickt ist die Einhandverstellung des Windschilds, das den auftreffenden Fahrtwind abmildert, aber nicht komplett eliminieren kann.
Trotz der insgesamt abgespeckten Ausführung, die die 950er-Multi zum Einstiegsmodell der ganzen Baureihe macht, braucht niemand auf die attraktiven Familiengene zu verzichten: Wie ihre Geschwister zeigt die Multistrada 950 die markante Optik mit dem charakteristischen Schnabel samt den beiden darüber angebrachten schmalen Scheinwerferschlitzen, die wie der Tank von der „Basis-Multi“ stammen. Ansonsten mischt sie lustig Elemente der Multistrada 1200 Enduro ein, so steuert die große Enduro die schmale Sitzbank samt Soziussitzpolster, Haltegriffe und den anschmiegenden Auspuff bei. Das offroadtaugliche Fahrwerk mit der robusten Zweiarmschwinge und den Reifendimensionen findet man ebenfalls dort.
Ordentlich bis umfangreich gibt sich die durchdachte Ausstattung, so finden sich alle wichtigen Informationen inklusive Ganganzeige im gut ablesbaren LCD-Instrument, der Leichtmetall-Heckrahmen ist mit integrierten Halterungen zur Fixierung der firmeneigenen Kunststoffkoffer vorbereitet. Wen es nach den martialischen Touratech-Aluboxen lüstet, muss erst zusätzliche Halterungen anbringen. Wer damit nicht genug hat und dem italienischen Schweizer Messer zu etwas mehr Tauglichkeit in die eine oder andere Richtung verhelfen möchte, bedient sich aus einem der vier vorkonfigurierten Ausstattungspakete Urban, Sport, Touring und Enduro. Beispielsweise besteht das Sport Pack für 1.129,-- Euro aus einem EG-konformen Termignoni-Endschalldämpfer, schwarzen Rahmenstopfen aus Aluminium sowie einem Aluminium-Bremsflüssigkeitsbehälter für die Vorderradbremse. Das Enduro Pack umfasst für 1.368,-- Euro einen Alu-Motorschutz, Stahlfußrasten, ein Kühlerschutzgitter, Sturzbügel und LED-Zusatzscheinwerfer. Ein wenig schade ist, dass die Multistrada 950 nicht mit den sehr gut aussehenden Drahtspeichenrädern ab Werk ausgerüstet ist, sondern diese gegen 1.665,-- Euro zusätzlich erworben werden müssen. Dann wären auch echte Stollenpneus vom Typ Pirelli Scorpion Rally aufziehbar, womit die 950er durchaus eine passable Offroad-Eignung mitbringen sollte, die vom ausgewogenen Charakter des Motors und dem vergleichsweise geringen Gewicht zusätzlich profitiert.
Ducati Multistrada 950 – on- und offroadtauglich
Ansonsten gibt es nichts, was man der Duc wirklich vorwerfen könnte. Unterhalb der großen Reiseenduroklasse positioniert sie sich ziemlich weit vorn, nicht nur wegen ihres Designs, sondern weil sie on- wie offroad die tauglichste, am leichtesten zu fahrende Multistrada-Version darstellt und mit 13.190,-- Euro auch noch vernünftig kalkuliert scheint. Dass sie den Fahrer weitaus weniger fordert als die 1200er-Varianten, gereicht ihr nicht zum Nachteil, im Gegenteil: Der Fahrspaß leidet darunter nicht im Mindesten. Nachdem die Aufstiegsprozedur über die Sitzhöhe von 89 Zentimetern und die ausladenden Koffer erfolgreich gelingt, fühlt man sich auf der Ducati Multistrada 1200 Enduro gut aufgehoben. Über 260 unterschiedliche Teile, wobei die Schrauben noch nicht mitgezählt sind, wurden neu verbaut. Darüber hinaus wurden die Federwege um 30 Millimeter auf nunmehr 200 Millimeter verlängert und die Bodenfreiheit um 35 auf 205 Millimeter vergrößert. Auch die kürzer ausgelegte Übersetzung sorgt für noch mehr Offroadtauglichkeit.