Historische Fahrzeuge waren unauffindbar
Bisher wurde aber noch kein funktionierendes Modell dieses ursprünglichen Motorfahrrades gefunden und somit fehlte ein wichtiges Teil des historischen Puzzles von Royal Enfield. Es gab keine existierenden Baupläne oder technischen Zeichnungen, die brauchbare Hinweise auf die Konstruktion des Motorfahrrades hätten geben können. Alles, was es gab, waren ein paar zeitgenössische Fotografien, einige Werbeanzeigen und ein paar illustrierte Zeitungsartikel von 1901, die grundsätzliche optische Hinweise und Informationen darüber lieferten, wie das Motorfahrrad ausgesehen und funktioniert haben könnte. Die Informationen, auf die man sich stützen konnte, waren bestenfalls spärlich, aber das machte die schwierige Aufgabe umso spannender. Konnte der allererste Teil der Royal-Enfield-DNA bis zur Feier eines so bedeutsamen Jubiläums rekonstruiert werden?Die erste Royal Enfield: Die Recherche beginnt
Schnell wurde ein Team von engagierten Royal-Enfield-Volontären zusammengestellt, das sich auf Entdeckungsreise machte, um in den Geschichtsbüchern so viele Informationen und so viel altes Wissen wie möglich über die Pionierzeit der motorisierten Zweiräder ausfindig zu machen. In Zusammenarbeit der Teams in den technischen Zentren von Royal Enfield UK und Indien sowie mit Harris Performance und anderen Experten aus der Motorrad-Oldtimer-Community nahm die Schatzsuche nach allen Teilen des Konstruktions-Puzzles an Fahrt auf.
Es war von Anfang an völlig klar, dass Aspekte wie die Mechanik, Technik und Ergonomie des ursprünglichen Royal Enfield Motorfahrrades Welten von den heutigen Motorrädern entfernt waren. Einer der offensichtlichsten Unterschiede bestand in der Einbaulage des 1,75-PS-Motors, der über dem Vorderrad am Lenkkopf befestigt war und das Hinterrad über einen langen, überkreuzten Rohleder-Riemen antrieb. Jules Gobiet hoffte, dass der Antrieb des Hinterrades das bei Werner-Motorrädern mit Vorderradantrieb häufig auftretende seitliche Rutschen verringern würde. Im Gegensatz zu den meisten anderen Motoren war das Kurbelgehäuse der Royal Enfield horizontal geteilt. Dies verhinderte die verheerenden Folgen, die auf das Vorderrad tropfendes Öl aus undichten, vertikal geteilten Kurbelgehäusen haben konnte.
Mensch und Maschine mussten zusammenarbeiten
Ein Longuemare-Sprühvergaser befand sich an der Seite des Benzintanks etwas unterhalb des Zylinderkopfes des Motors. Eine zweite Zuführung zweigte vom Auspuff ab und verlief um die Mischkammer des Vergasers herum, um den Kraftstoff zu erwärmen und so eine Vereisung zu verhindern. Bei der Schmierung handelte es sich um eine Verlustschmierung: der Fahrer spritzte über eine Handölpumpe, die sich auf der linken Seite des Zylinders befand, eine Ladung Öl in das Kurbelgehäuse. Dieses verbrannte nach 15 bis 25 Kilometern, woraufhin eine weitere Ladung Schmiermittel erforderlich wurde. Der Zylinderkopf beherbergte ein mechanisches Auslassventil und ein automatisches Einlassventil. Das Einlassventil wurde durch eine schwache Feder geschlossen gehalten und durch Unterdruck geöffnet. Sobald sich der Kolben im Zylinder abwärtsbewegte, öffnete sich das Einlassventil, sodass eine Ladung Luft-Kraftstoff-Gemisch in den Zylinder gelangte. Ein Unterbrecher an der steuerungsseitigen Achse löste eine Schwingspule aus, die eine schnelle Folge von Impulsen an die Zündkerze sandte. Dies führte zu einer guten Verbrennung trotz sehr niedriger Drehzahlen.
Das Starten der Maschine erforderte die Betätigung der Fußpedale, und sobald der Motor zündete, wurde der Vergaser per Handhebel auf der rechten Seite des Benzintanks von der Leerlaufstellung bis zur Vollgasstellung geöffnet. Es gab keine Drosselklappe. Die Geschwindigkeit wurde durch einen Ventilstößel reguliert, der mit einem Hebel am Lenker geöffnet wurde. Um zu verlangsamen, betätigte der Fahrer diesen Ventilstößel. Dadurch wurde das Auslassventil geöffnet, und weil nun kein Unterdruck mehr im Zylinder herrschte, blieb das automatische Einlassventil geschlossen und es strömte kein Luft-Kraftstoff-Gemisch in den Zylinder. Sobald der Fahrer das Auslassventil schloss, öffnete sich das Einlassventil und der Motor zündete wieder. Daher konnte ein Beobachter denken, dass der Motor periodisch aussetzte, obwohl der Fahrer lediglich seine Geschwindigkeit veränderte.
Das Vorderrad verfügte über eine Bandbremse, die mittels Bowdenzughebel und -kabel mit der linken Hand des Fahrers betätigt wurde. Das Hinterrad verfügte ebenfalls über eine Bandbremse, die jedoch durch Rückwärtstreten der Pedale betätigt wurde. Der Sattel war ein Lycette La Grande aus Leder und die 26-Zoll-Räder waren mit 2x2-Zoll-Clipper-Reifen ausgestattet. Die Maschine kostete genau 50 Pfund, was heutzutage 4.745,-- Euro entsprechen würde.
Alles wie damals, sogar die Handarbeit
Mit all diesen zusammengetragenen Hintergrundinformationen galt es anschließend, die Technologien der neuen Welt mit den Fertigkeiten und Praktiken der alten Welt zu kombinieren, um von Grund auf mit der vollständigen Rekonstruktion einer originalgetreuen Nachbildung zu beginnen. Als der Bau Gestalt annahm, wurde schnell deutlich, wie viel handwerkliches Geschick und Fachwissen für die Herstellung bestimmter Teile des Motorrades erforderlich waren. Eines der komplexesten und schwierigsten Elemente war die Konstruktion des gefalteten Messingtanks, der in meisterhafter Handarbeit aus einem einzigen Messingblech geformt, gehämmert und gelötet wurde. Dabei kamen uralte Werkzeuge und Techniken zum Einsatz, die in der Zwischenzeit beinahe in Vergessenheit geraten waren.Den Rohrrahmen des Motorfahrrades fertigte Harris Performance fachmännisch aus Messing, ebenso wie eine Reihe von handgearbeiteten Messinghebeln und -schaltern. Der Motor wurde von Grund auf neu gebaut. Da es keine Entwürfe oder technischen Diagramme gab, auf die man sich beziehen konnte, musste das Team die wenigen verfügbaren Fotos und Illustrationen von 1901 genau studieren. Daraus wurden CAD-Entwürfe für jedes Bauteil entwickelt, die dann entweder einzeln von Hand gegossen oder aus einem Block gefräst wurden.
Außerdem drechselte das Team die Holzgriffe von Hand, baute die vorderen und hinteren Bandbremsen nach und ließ einen Vergaser anfertigen. Die beschafften Originalteile aus der Zeit der Jahrhundertwende, wie die Petroleumlampe, die Hupe, der Ledersattel und die Räder, wurden generalüberholt und vernickelt, um den Eindruck zu erwecken, dass das fertige Motorfahrrad gerade erst der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, so wie es vor 120 Jahren der Fall gewesen wäre.
Ein neues Leben für ein Stück Motorradgeschichte
Mit der Fertigstellung des Nachbaus wurde ein wichtiges Kapitel in der Firmengeschichte von Royal Enfield wieder zum Leben erweckt. Was im Jahr 1901 mit dem charmanten, langsamdrehenden Motörchen des allerersten Motorfahrrades von Royal Enfield begann, besteht nun schon seit 120 Jahren.#Oldtimer #Royal Enfield