betrachtet ist das im Spätsommer eine sehr gute Idee. Beste Wetteraussichten. Kein Gedränge mehr an den Stränden, weil die Ferien fast überall rum sind. Und erfahrungsgemäß freie Straßen, weil die Franzosen wieder in Paris weilen. So gesehen ein ganz famoser Plan, dieser Roadtrip ins La Vendée. Wäre da nicht diese verdammte Pandemie.
Es ist Ende August. In einer Woche wollen

Wir starten in St. Ingbert. Uhrenvergleich: kurz vor zehn. Abends. Brrr. Es ist kälter als gedacht.

Und längst finstere Spätsommernacht. Unser Plan, mindestens die Hälfte der rund 860 Kilometer bis Les Epesses, unserem ersten Etappenziel, am Stück durchzuballern, können wir mal getrost knicken. Zwei, drei Stunden trauen wir uns noch zu nach einem ziemlich langen Tag. So landen wir in Saint-Dizier. Ein Städtchen, an dem uns nur das günstig gelegene Hotel Brit interessiert. Ein Dreibettzimmer mit zwei Schlafräumen kostet keine 100 Euro. Die Rezeption ist durchgehend besetzt und verkauft Getränke zum mit aufs Chambre nehmen. Passt.
Tag 1: Saint-Dizier – Les Epesses

Der Weg nach Les Epesses lehrt uns: Nationalstraßen wie die N7 und N4 nutzt der Franzose als Freilichtmuseum und Testgelände für Generationen von Radargerätschaften. Es blitzt von vorn und von hinten, aus Anhängern und hinter Hecken, auf Hügeln und unterhalb von Leuchtreklamen. Wir zählen mindestens siebzehn Blitzer auf achtzig Kilometern. Irrwitzig. Nein, geradezu irre. Als wollten sich Landräte und Gemeindevertreter gegenseitig übertrumpfen in der Blitzerdichte ihrer Beritte. Wir schlagen drei Kreuze, dass wir hier nicht nachts vorbeigerauscht sind. Das hätte – bei allem Verständnis für die französische Straßenverkehrsordnung – ein teures Vergnügen werden können. Das Puy du Fou ist ein Publikumsmagnet. Als wir Anfang September dort aufschlagen, haben Park und Hotels seit gut zehn Wochen wieder teilgeöffnet. „Normalerweise startet die Saison im April“, erzählt uns Océane Vrigneau, die bezaubernde Pressedame des Puy du Fou. Aber nun,
der Lockdown. Bis zu 2,3 Millionen Besucher kommen pro Jahr. „Eigentlich“,
seufzt Océane. TripAdvisor hat Puy du Fou zur Nummer eins der Freizeitparks in Europa gekürt und zur Nummer drei weltweit.
Die Hauptshow findet abends auf einer 23 Hektar (!) großen Außenbühne statt. Laut eigenen Angaben ist es „die größte der Welt“. Schreibt Wikipedia auch. Wer einmal da war, glaubt es gern. 142 Wasserfontänen, eine bombastische Licht- und Lasershow, ein durchdringender Sound, bis zu 2.400 (!) Akteure, viele davon ehrenamtliche Laiendarsteller aus der Umgebung – das „La Cinéscénie“ bietet in der Tat ein unfassbares „Spectacle“, Kanonendonner und Säbelrasseln inklusive. Knapp 15.000 Zuschauer passen auf die frontal zur Show ausgerichtete Tribüne. In restriktionsfreien Zeiten. Als wir da sind, werden es zu unserem baffen Erstaunen immerhin gut 5.000. Abstand? Blanke Theorie. Gut 100 Minuten dauert die Mega-Aufführung. Heute geht es um einen kleinen Jungen, der seine Ahnen trifft und durch die Jahrhunderte schweift. Alles auf Französisch. Auf Wunsch übersetzt eine App simultan in andere Sprachen. Vive la France.

„Le Camp du Drap d’Or“, eine Art Zeltstadt mit hundert Zimmern. Die Außenwände sind aus einem festen, güldenen Stoff, dem das farbenfrohe Lager seinen Namen verdankt. Drinnen ist in der Regel Platz für vier Personen. Die Toilette sieht aus wie ein hölzerner Thron. Im eigentlichen Park gibt es weitere Shows und zahlreiche „Durchlauferlebnisse“. So nennen sie hier die Historienwelten. „Les Amoureux du Verdun“ (übersetzt: Die Verliebten von Verdun) beispielsweise schildert das Leben in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Es rumst und qualmt und lärmt im dämmerigen Schlacht-Schacht. Von allen Seiten prasseln Eindrücke und Geräusche auf die Besucher nieder. Zwischen lebensgroßen Puppen agieren echte Darsteller. Dreidimensionales Multitasking. Höchst sehenswert. Und absolut gruselig in Zeiten von Corona: Wie in den Tokioter U-Bahnstationen drängen die Besucher durchs Labyrinth der Stollen.
Tag 2: Les Epesses – Saint-Sigismond

(www.lehavredejulie.com). Gastgeber sind die smarten Mittfünfziger Guy und Julie. Er ehemaliger Spitzenkoch, sie ehemaliges Model. Vor ein paar Jahren haben die beiden in Paris in den Sack gehauen. Jetzt beköstigt Guy nicht mehr von früh bis spät ein paar hundert Gäste am Tag in teuren Hotels, sondern betüddelt maximal eine Handvoll Übernachtungsgäste in selbst gestalteten Gemächern, fünf an der Zahl. „Das entspricht sehr viel mehr meiner Vorstellung von Gastfreundschaft“, sagt der durchtrainierte Cuisinier.
Beim Ankommen und beim Abschied stehen Guy und Julie in der Tür wie „Maman et Papa“, die du auf dem Land besuchst. Sie kuschelig mit Katze auf dem Arm, er stählern wie ein Triathlet. „Guy ist immer viel gesurft“, strahlt Julie verliebt wie am ersten Tag. Kurzer Rundgang durchs Haus. Die meisten Gästezimmer bewohnen sonst ihre Kinder aus jeweils erster Ehe. Hohe Decken, viel Kunst an den Wänden, vom langen Esszimmertisch aus schaut man in den großen Garten mit Bambus und Feigenbaum. Guy kocht aus den „figues“ eine grandiose Marmelade und ein famoses Chutney. Beides wird es morgen zum Frühstück geben. Jetzt ist erst mal Abendessen angesagt.
Gedeckt ist draußen auf dem kiesbedeckten Hof. „Nehmt Platz“, bittet Guy und entschwindet in die Küche, beschürzt und sichtlich in seinem Metier.


Tag 3: Saint-Sigismond – La Tranche-sur-Mer
Boah, habe ich gut geschlafen. Frühstück mit Croissants und selbstgemachtem Brot, dazu frisch gepresster O-Saft. Die Sonne lacht, im Hof warten zwei Fahrräder auf uns. Wir strampeln durchs „Marais Poitevin“, vorbei an unzähligen Kanälen, malerischen Häuschen und Gehöften im Dornröschenschlaf. Frankreich von seiner schönsten Seite. Hach, hier könnten wir gut ein paar Tage länger bleiben. Aber weiter geht es, die Küste ruft. Winke-Winke Guy, Bisous Julie – wir sehen uns garantiert wieder!Runter vom Fahrrad, rauf auf unser Triumph-Duo Street Twin und Speed Twin. Über fein gewundene Sträßchen führt uns die Calimoto-App ins nahegelegene Mallièvre. Das verschlafene Kopfsteinpflasternest klebt an einer sehenswerten Brücke. Kleines Päuschen im „Salon de Thé“ von Anne und Alex Govaert. Über ihrem Salon vermieten die beiden seit Kurzem auch Gästezimmer (www.maisonaufildutemps.com).


„Früher war hier das Meer“, erzählt unser Bootsmann. Die Myriaden von Kanälen im Marais sind alle von Menschenhand geschaffen, um die Gegend trockenzulegen und urbar zu machen. Spezielle Bäume – „les frâmes“, erklärt Baptiste – sorgen mit ihrem breiten, aufgefächerten Wurzelwerk dafür, dass die Ränder der Kanäle nicht alle naslang nachgeben. „Dreiundvierzig verschiedene Fischsorten leben hier“, weiß der junge Mann. Im trüben Wasser sind sie nicht zu sehen. Im Restaurant „L’Echauguette“, direkt neben der Anlegestelle „Embarcadère de l’Abbaye de Maillezais“ gelegen, landen sie dennoch auf den Tellern.
Siebzig Kilometer weiter westlich checken wir im Hôtel Les Dunes ein.
Mit traumhaftem Blick aufs Meer. Wir sind am Atlantik. Hurra! Die Fahrt hierhin durch die menschenleere Vendée ist großes Kino mit unseren Bonnies. 97 PS leistet die Triumph Bonnville Speed Twin mit ihrem präzisen Sechsganggetriebe, 65 Pferdchen bringen die fünf Gänge der Street Twin in Wallung. Unschlagbar: der Mix aus dem Twin-Sound der beiden Triumph-Bestseller und der Ommmmh-mäßigen Ruhe der Landschaft. Ein bisschen Bretagne, ein bisschen Provence, die Straßen gehören uns. In Fontenay-le-Comte gönnen wir uns ein kleines Päuschen: Chillen vorm Museum, welke Blätter aufscheuchen im Schlosspark.

Tag 4: La Tranche-sur-Mer – Saint-Gilles-Croix-de-Vie

Last chance, im wahrsten Sinne. Direkt nach unserem Paddeltörn motten die Surfer-Boys ihre Strandcontainer landeinwärts ein. Alles muss weg aus der Uferzone, lautet die Devise. Die breiten Sandstrände sind auf gesamter Küstenlänge Naturschutzgebiet. Nichts darf hier stehen in der Nebensaison, bedeutet: spätestens von Oktober bis April.
Mittags parken wir unsere Twins im Port de la Guittière. „L’Huîtrier Pie“ ist unser Ziel, eine der lokalen Austernfarmen. Oder eher: die lokale Austernfarm (Telefon +33-251-906192). Chef „Fredoche“ hat sein Leben den Muscheltieren verschrieben. Seit fünf Jahren hat er hier seinen eigenen Betrieb
mit charmantem Restaurant. Ein Kleinod. Originell wie der Chef selbst.

Wir lernen (frei nach Fredoche): Jede Auster filtert täglich 18 bis 22 Liter Wasser. Nach circa 1,5 Jahren bildet sie ihr Geschlecht aus. Rund zwölf Stunden pro Tag ist sie unter Wasser und ein Kind der Gezeiten. Sie wächst in Säcken heran, die mindestens zweimal im Jahr gedreht werden müssen, sonst klumpen die Austern zusammen. Liegt sie schräg in ihrer Austernbank, öffnet sie sich kurz, um zu peilen, ob sie an Land ist oder im Wasser.



Tag 5: Saint-Gilles-Croix-de-Vie – Noirmoutier
Zeit für den nächsten und letzten Ortswechsel: Kurs Noirmoutier. Die Halbinsel ist im September ein Rentnerparadies, scheint es. Wohnmobil reiht sich an Caravan, das macht die Fahrt über die große Brücke, die das Eiland mit dem Festland verbindet, etwas mühsam. Zurück sind wir schlauer, weil pünktlicher. Die „Passage du Gois“ führt mitten durchs Meer.Im Rhythmus der Gezeiten ist sie täglich für rund zwei Stunden geöffnet.
Und echt ein Erlebnis. Ein Rest Salzwasser steht auf der dammartigen Rumpelpiste, die Bikes sind nach der Überfahrt komplett eingesaut. Egal, der nächste Hochdruckreiniger kommt bestimmt.

Dieses Risiko umgeht natürlich, wer die Brücke nutzt. Die funktioniert im 24/7-Modus und hat auch was, so nicht gerade Stoßzeit ist. Unser Ziel ist das hippe Hotel La Chaize in der wohlklingenden Avenue de la Victoire
(www.hotel-noirmoutier.com). Zehn Minuten auf unseren Triumph-Maschinen davon entfernt, erwartet uns Marie Bruley vom örtlichen Office de Tourisme. Wir hüpfen in ihren Kompaktwagen und lernen „die Insel unter dem Meeresspiegel“ kennen. Ein Großteil der Inselfläche liegt faktisch tatsächlich unter Meeresniveau. Der Frühkartoffel scheint das zu gefallen: „Bereits Ende März sprießen hier die ersten Kartoffeln Frankreichs“, frohlockt Marie. Ohne Schale, eher fruchtig, eine lokale Spezialität.

Von April bis September fahren alle Besucher der Insel kostenlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Das macht es uns einfach, die Hotspots abzuklappern. Der Verkehr ist übersichtlich, die Straßen verströmen den Blues des Spätsommers. Wir besuchen Cathy Guerin. Mit strengem Blick mustert sie uns. Zweimal täglich empfängt sie im Juli und August und manchmal auch im September Besucher auf ihrer Salzplantage.
Noirmoutier ist eine Hochburg für „Fleur de Sel“. Nur ein Prozent der gesamten Salzernte wird zu dieser Spezialität, die ausdrücklich nur für den Einsatz auf dem Teller gedacht ist – „und niemals nie nicht zum Kochen“, schärft uns Cathy mit der Güte einer Domina ein. Ansonsten, daran lässt ihr Blick keinen Zweifel: Kopf ab!

Im Mai beginnt dann die eigentliche Versalzung, lehrt sie uns. Und erklärt unumstößlich: „Der Regen ist unser Feind.“
Kommt zu viel von oben, kann unten kein vernünftiges Salz entstehen – „und schon gar kein Fleur de Sel“. In richtig guten Jahren recht sie drei Tonnen des kostbaren Meersalzes zusammen. Einhundert Gramm kosten mindestens drei Euro. Lebensart und Gaumenfreude haben halt ihren Preis.
Abends beim Abschlussessen im Restaurant Le Transat im Hafen von Noirmoutier-Stadt lernen wir: Der Westfranzose versteht unter „Bruschetta“ nicht etwa drei bis vier zarte Stückchen Baguette, sondern zwei fingerdicke Scheiben Weißbrot, jede von der Größe eines ausgewachsenen Wiener Schnitzels und dazu eine XXXL-Portion Pommes. Das soll uns als Preload-Wegzehrung für den kommenden Tag wohl reichen. Die Hauptspeise storniere ich – bloß nicht zu viel Ballast. Morgen früh geht es zurück. 1.050 Kilometer. Fester Entschluss: Dieses Mal fahren wir durch.
#Frankreich #Reise