M&R-PlusFahrtest BMW S 1000 RR 2023 – Regeln am Limit

BMW hat mit der BMW S 1000 RR, Modell K67, als einziger Hersteller ein Superbike im Programm, das neben immensen Fahrleistungen auch Allrounder-Qualitäten mitbringt und so auch abseits der Rennstrecke gut fahrbar ist.
Fahrtest BMW S 1000 RR 2023 – Regeln am Limit Zum Modelljahr 2023 schicken die Bayern ihr Supersport-Flaggschiff mit einigen Verbesserungen ins Rennen.
Fahrtest BMW S 1000 RR 2023 – Regeln am Limit Die Elektronik der BMW ermöglicht den perfekten Drift am Kurvenausgang, den Weg bis zum Grenzbereich muss der Fahrer aber selbst gehen
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30.11.2022
| Lesezeit ca. 9 Min.
Michael Praschak
BMW
Zum Modelljahr 2023 schicken die Bayern ihr Supersport-Flaggschiff mit einigen Verbesserungen ins Rennen. Seit ihrer Markteinführung im Jahr 2009 zeichnet sich die BMW S 1000 RR durch eine Eigenschaft besonders aus – ihre Fahrbarkeit. Trotz der für damalige Verhältnisse schon mächtigen 193 PS war es die Kombination aus Leistungsentfaltung, Ergonomie und elektronischen Assistenzsystemen, die die neue sportliche Speerspitze aus Bavaria auch für weniger erfahrene Piloten
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sehr zugänglich machte. Das änderte sich auch mit der Einführung des K67-Modells ab 2018 nicht.
BMW S 1000 RR
Hier gehört sie hin: Auch die 2023er-Doppel-R bringt sicher Landstraßentauglichkeit mit, ihr natürliches Habitat ist aber ganz klar die Rennstrecke.
Diese riss zwar das erste Mal auch offiziell die 200-PS-Marke und ging optisch neue Wege, blieb aber dem Doppel-R-Charakter treu und wusste so nicht nur dank ihrer Rennstreckenqualitäten, sondern auch durch ihre Alltagstauglichkeit zu überzeugen. Um auch den Teil der Klientel zu bedienen, dem es nicht exklusiv und performant genug sein kann, adaptierte man in München das im Automobilbereich schon legendäre M-Segment auf den Motorradbereich und erweiterte die Superbike-Palette um die M 1000 RR. Für das Modelljahr 2023 rollen die Bayern nun die K67 Modellüberarbeitung an den Start, die das Beste aus beiden Modellen vereinen soll.

Beflügelt, erstarkt, geregelt

BMW S 1000 RR
Die Winglets sorgen für bis zu 10 Kilogramm mehr Downforce
Die offensichtlichste Neuerung an der S 1000 RR ist sicher das von der M-Variante adaptierte Aerodynamikpaket mit den mächtigen Flügeln links und rechts an der Verkleidung. Im Unterschied zur M erstreckt sich das Winglet auch unterhalb der Lampenmaske über die ganze Breite der Front. Dabei schließt das neue Design nicht nur die Lücke zu den Winglets von Panigale und CBR, sondern generiert laut BMW auch bis zu 10 Kilogramm mehr Anpressdruck, was späteres Bremsen und härteres Beschleunigen ermöglichen soll. Ergänzt wird das Aerodynamik- und Verkleidungsupdate durch eine höhere Scheibe und die neugestaltete Heckpartie mit kurzem Kennzeichenhalter.
BMW S 1000 RR
Im Gegensatz zur M 1000 RR erstrecken sich die Flügel über die ganze Breite der Front.
Wirklich spannend wird es aber unter dem vertraut wirkenden Plastikkleid. Der Zugewinn an Leistung fällt mit drei PS – das Aggregat liefert in Summe deren 210 – noch überschaubar aus. Am Motor wurde lediglich der Zylinderkopf mit einer neuen Einlasskanalgeometrie versehen, die sich jetzt an der des M 1000 RR-Triebwerks orientiert. Ebenfalls aus dem Premiummodell stammen die neue Airbox und die nun kürzeren Ansaugtrichter. Diese sollen für einen besseren Ladungswechsel bei hohen Drehzahlen sorgen. Abgerundet werden die mechanischen Highlights durch die schon bekannte ShiftCam-Technologie mit einer Drehmoment- und Leistungsnocke je Einlassventil, dank der nicht nur für Supersportler typische High-End-Leistung ermöglicht wird, sondern auch Drehmoment und Durchzug im auf der Landstraße entscheidenden, unteren Drehzahlbereich generiert werden.
BMW S 1000 RR
Neutral, agil, zielgenau. Die Modellüberarbeitung der S 1000 RR schenkt enorm viel Vertrauen
Die wirklichen Highlights in Sachen Entwicklung setzt an der Neuen aber das Elektronikpaket. War die „alte Doppel-R“ schon sehr gut ausgestattet, gesellen sich zur dynamischen Traktionskontrolle DTC, Wheelie-Control, Launch-Control, Kurven-ABS, Dynamic Brake Control und zum Berganfahrassistent jetzt eine Slide Control, ein Brake Slide Assist, ein Slick-Modus und ein Stoppie-Feature für das Kurven-ABS sowie die neue Motorschleppmomentregelung. Die damit einhergehenden Einstellmöglichkeiten und Fahrmodi gibt es zur Steigerung der Komplexität natürlich noch obendrauf.
BMW S 1000 RR
Das wichtigste neue Bauteil versteckt sich vorne links in der Verkleidung: der Lenkwinkelsensor
Um das wundersame Wirken der neuen Assistenten Slide Control und Brake Slide Assist überhaupt zu ermöglichen, verfügt die 2023er S 1000 RR über ein neues Zauberbauteil namens Lenkwinkelsensor. Aus der Kombination des damit ermittelten Lenkwinkels, der Geschwindigkeit und den Signalen aus der Sensorbox wird der Schräglaufwinkel des Hinterrades errechnet. Je nach Fahrmodi-Einstellung lässt die Elektronik dann minimalen (Modi RAIN, ROAD, DYNAMIC) oder mittleren (RACE Mode Setting 3) bis starken Drift (Setting 2) zu. Für maximale Quertreiber ist natürlich auch ein Abschalten des Systems im RACE Mode möglich. Wer jetzt spürbare Bewegungen in den Landstraßenmodi RAIN, ROAD, DYNAMIC erwartet, sei unbesorgt. Das System ist auf Sicherheit ausgelegt, agiert in diesen Einstellungen unbemerkt im Hintergrund und entfaltet seinen Nutzwert nur für wirklich schnelle Hobbyfahrer auf der Rennstrecke. In den Race-Modi ermöglicht es laut BMW aber tatsächlich das Lenken über das Hinterrad und soll dafür sorgen, auch bei abbauendem Grip-Niveau noch die maximale Performance aus dem Material herausholen zu können.
BMW S 1000 RR
Der Blipper an der BMW funktioniert tadellos, die Schaltung lässt sich einfach umkehren. Die verstellbare M-Fußrastenanlage….
Was beim harten Beschleunigen bei Profis gewollt ist, kann am Kurveneingang bei harten Bremsmanövern in geringer Schräglage ungewollt auftreten, wenn durch die harte Verzögerung das Hinterrad leicht wird und das Schleppmoment des Motors so viel Schlupf erzeugt, dass es zu einem Drift kommt. Was spektakulär aussieht, reduziert in der Regel, wenn nicht gezielt ausgelöst, die Verzögerungswirkung. Um diesem negativen Effekt entgegenzuwirken, hat BMW die neue S 1000 RR mit der neuen Motorschleppmomentregelung MSR ausgestattet. Diese nutzt die Informationen zu Hinterradschlupf und Schräglaufwinkel und reduziert durch leichtes Öffnen der Drosselklappen auf zwei Zylindern gezielt das Schleppmoment des Motors, um das Motorrad so stabil zu halten.
BMW S 1000 RR
… und die Carbonfelgen gibt es aber nur als Zubehör
Du fragst dich jetzt, wieso Rennfahrer oft quer anbremsen und ob das System dann bei Profis nicht sogar kontraproduktiv ist? Tatsächlich ermöglicht die Motorschleppmomentregelung es der neuen S 1000 RR jetzt auch, den perfekt dosierten Drift in der Anbremszone zu zaubern. Hierfür nutzt die BMW-Elektronik ein Zusammenspiel aus MSR und ABS und regelt abhängig von Schräglage sowie Schräglaufwinkel den Bremsdruck am Hinterrad, erhöht das schräglagenabhängige Schlupffenster des ABS und gibt so für das Hinterrad begrenzt den Weg zur Seite frei.
BMW S 1000 RR
Die neuen M-Bremssättel und das ABS Pro generieren mächtig viel Verzögerung.
Abgerundet wird das renntaugliche Regelpaket durch eine Erweiterung des ABS Pro um einen Slick-Modus, der das hohe Grip-Niveau moderner Rennreifen berücksichtigt, um das maximale Verzögerungsmoment bis zum Kurvenscheitel zu ermöglichen und gleichzeitig das Sturzrisiko zu reduzieren. Während das System im Rennstreckeneinsatz zu starkes Abheben des Hinterrades verhindert, um maximale Verzögerung zu gewährleisten, lässt es bei Bremsungen unter 50 km/h Stoppies zu. Selbstverständlich greift die BMW auch hier maßregelnd ein und dosiert die Bremskraft, um ein Überschlagen nach vorne zu vermeiden. Wer sich traut, kann sich also an publikumswirksamen Stoppies in der Boxengasse versuchen.

Schöne Elektronikwelt, harte Wahrheit

BMW S 1000 RR
Das Dashboard ist in Sachen Informationsgehalt und Ablesbarkeit ein Traum.
Wer jetzt aber denkt, die neue S 1000 RR lässt nun jeden Superbike-Novizen fahren wie einen Profi mit zigfacher Grenzbereichserfahrung, hat weit gefehlt. Um von den neuen Features zu profitieren, bedarf es schon sehr weit fortgeschrittener fahrerischer Fähigkeiten, da die Regelsysteme entwickelt wurden, um das bewusste Fahren im Grenzbereich zu vereinfachen. Und da muss man erst mal hinkommen. Was in der Theorie gut klingt, muss in der Praxis natürlich auch im richtigen Umfeld praktisch vorgestellt werden. Passenderweise hat BMW für die Präsentation der Modellüberarbeitung der neuen S 1000 RR auf eine reine Rennstreckenveranstaltung gesetzt und auf den anspruchsvollen Kurs im spanischen Almeria geladen. Und die Bedingungen hätten nicht besser sein können. Exklusive Slots für die Journalisten mit Gruppen von maximal sieben Fahrern pro Turn, Profirennfahrer als Instruktoren und feinste Bridgestone-Slicks als Klebstoff zwischen Motorrad und Asphalt. Der beste Rahmen hilft aber nicht, wenn der Pilot im letzten Jahr kaum auf der Rennstrecke unterwegs war und sein letztes Gastspiel auf dem Kringel mit gebrochenen Knochen im Kiesbett beendet hat. Wohl dem, der nach dieser Erfahrung auf der neuen Doppel-R ausrücken darf.

Schon beim Platznehmen stellt sich die angenehm vertraute RR-Atmosphäre ein. Alles findet wie von allein seine Position, nichts zwickt oder zwackt. Dank einer Zusatzaufnahme am Schalthebel ist sogar das Schaltschema innerhalb von Sekunden umgekehrt und rennstreckentauglich. Nur noch schnell den Bremshebel eingestellt und hinter BMW Boxer-Cup-Vize Nate Kern raus in den ersten Turn. Der amerikanische Profi Racer, der extra für das Event eingeflogen wurde, lässt es zwar ruhig angehen, dennoch gab es schon nach wenigen Kurven beim ersten Griff zur Bremse ein Aha-Erlebnis.
BMW S 1000 RR Heck
Das elektronische Marzocchi-Fahrwerk kann über das Dashboard eingestellt werden und arbeitet hervorragend
Der Bremshebel gab sich beim Einstellen durch seine schlichte und mattschwarze Ausführung zwar als Standardteil zu erkennen, der leichte Zug am selbigen löst aber mehr Bremsmoment aus, als man von der K67 gewohnt ist. Grund hierfür sind die M-Bremssättel, die in Zusammenarbeit mit Nissin entwickelt wurden und nun serienmäßig am Fuß der schwarzen Marzocchi-Gabel zu finden sind. Beim Verzögern benötigt man zwar etwas mehr Handkraft als bei einem reinen Rennstreckenmotorrad ohne ABS und mit direkten Leitungen zum Bremssattel, es reichen aber immer zwei Finger für mächtige und sehr gut dosierbare Bremsleistung. Das fällt vor allem am Ende der Geraden im hinteren Streckenteil auf. Hier erreicht man auch als durchschnittlicher Fahrer mit 270 km/h und mehr den Bremspunkt, die bis zum Scheitelpunkt der anschließenden Rechtskurve auf etwa 80 km/h reduziert werden wollen. Eine Disziplin, die die BMW Runde für Runde mit Bravour meistert. Kein wandernder Druckpunkt, und das ABS Pro lässt sich auch von Verbremsern und ambitioniertem Abbiegen auf der Bremse nicht beeindrucken. Wenn doch, dann lässt es den Piloten sein Eingreifen nicht spüren und vermittelt so schnell extrem viel Vertrauen.
BMW S 1000 RR
Die Elektronik der BMW ermöglicht den perfekten Drift am Kurvenausgang, den Weg bis zum Grenzbereich muss der Fahrer aber selbst gehen
Mit zunehmendem Tempo zeigt die BMW dann vor allem im mittleren Streckenteil des abwechslungsreichen Kurses schnell weitere Qualitäten. Hier fällt nicht nur auf, wie neutral sich die Neue in allen Schräglagen verhält, sondern es sind vor allem die Agilität und die Zielgenauigkeit, mit der sie sich von Kurve zu Kurve dirigieren lässt. Um die Fahreigenschaften zu verbessern, haben die BMW-Ingenieure nicht nur die Fahrwerksgeometrie angepasst – der Lenkkopf steht jetzt mit 66,4° ein halbes Grad flacher, das Offset der Gabelbrücken wurde um 3 mm verringert und der Radstand wuchs auf 1.457 mm an. Auch der Rahmen verfügt jetzt über zusätzliche Durchbrüche, um mehr Flexibilität zu erhalten. Bei der Vorstellung auf der Rennstrecke haben sicher auch die leichten Carbonfelgen das Fahrverhalten positiv beeinflusst, die es aber nur als Zubehör gibt. In der Standardversion rollt die Doppel-R auf Rädern aus Aluguss.

Mensch und Maschine

BMW S 1000 RR
Wer´s braucht: Optional gibt es eine Soziusabdeckung mit integrierter GoPro-Halterung.
Die überarbeitete S 1000 RR fährt sich zwar noch einfacher als die Vorgängerin, all die mechanischen und elektronischen Features und technischen Vorzüge helfen nur bedingt, wenn der Mensch auf der Maschine die Limits setzt. Die Elektronik kappt bei zu ambitioniertem Dreh am E-Gas zwar gefühlvoll Leistung weg, sobald das Motorrad am Kurvenausgang aufrecht genug steht, ziehen die maximal 210 PS und 113 Newtonmeter Drehmoment gehörig die Arme lang, was auf Dauer noch immer Kraft kostet.
BMW S 1000 RR
Unter dem Winglet ist auch die Verkleidung neu gestaltet.
Die Summe der technischen Änderungen sorgt in jeder Situation für immensen Fahrspaß, der dank der Regelsysteme entspannte Tanz im Grenzbereich war bei der Vorstellung in Almeria aber nur wenigen Teilnehmenden vergönnt. Zu gut funktioniert schon die Basis der neuen S 1000 RR und zu spät kommt der Grenz- und Einsatzbereich der neuen Assistenzsysteme, als dass Gelegenheitsfahrer auf der Rennstrecke in den erlebbaren Bereich der elektronischen Helfer gelangen könnten.
Der Entwicklungstand der neuen S 1000 RR ist inzwischen so weit, dass sie es nicht nur Einsteigern ermöglicht, verhältnismäßig entspannt ein extrem leistungsfähiges Motorrad zu fahren, sondern auch fortgeschrittenen Piloten erlaubt, sich mit der Elektronik als Sicherheitsnetz in den Grenzbereich zu wagen und so die eigenen Limits zu verschieben. In der Gesamtkombination ist das 2023er-Modell die beste Doppel-R aller Zeiten, die das Potenzial besitzt, auch ihre Fahrer und Fahrerinnen besser zu machen, als sie je gewesen sind.
 Pro
  • super Ergonomie
  • Sicherheitspaket für jede Lebenslage
  • Rennsport- und landstraßentauglich
  • kurzer Kennzeichenhalter ab Werk
 Contra
  • M-Sitzbank etwas rutschig
  • Standardversion nur mit Alugussfelgen