Valcourt in Kanada ist fest in der Hand von BRP. Bombardier Recreational Products, Weltmarktführer bei Powersport-Funvehikeln, unterhält hier sein Stammwerk und das größte Designcenter des Landes. Fast wie bei Volkswagen in Wolfsburg ist um das Werk herum eine Stadt gewachsen. Nirgends dürfte es mehr Can-Am Spyder in freier Wildbahn geben. Die Dreiräder begegnen einem an nahezu jeder Ecke. Über die Seen und Flüsse pesen die hauseigenen SeaDoos (leistungsstarke Jetskis). Im Winter fahren fast alle mit SkiDoos (leistungsstarke Snowmobile) durch die tief verschneite Landschaft. Und bald könnte auch die Dichte an E-Motorrädern auffällig zunehmen. Denn Can-Am baut nach fast fünf Jahrzehnten wieder Zweiräder. Elektrisch angetrieben dieses Mal, auffällig designt und voll mit innovativer Technik.
Elektroantrieb von Konzerntochter Rotax
„Ich dachte erst, das muss wohl eine Zero sein“, begrüßt uns ein Passant euphorisch auf einem Parkplatz. „Aber dann sah ich: Das ist ja die neue Can-Am! Gibt es die schon?“ Nope, guter Mann. Das sind Vorserien-Modelle, die wir exklusiv vor allen anderen fahren dürfen. Offizieller Verkaufsstart des neuen Elektro-Duos ist Anfang 2025, wie Can-Am jetzt offiziell bekannt gegeben hat. Dann bringt BRP parallel zwei Modelle auf den Markt: den Roadster Pulse – in erster Linie gedacht für „Commuter“, also Pendler – und das All-Terrain-Bike Origin mit leichter Adventure-Attitüde. „Style first“, lautet die Marschrichtung für Europa, „Freedom first“ ist der Ansatz in Nordamerika, lernen wir beim Marketing-Briefing. Verbindendes Designelement ist der kanariengelbe Lithium-Ionen-Akkublock, der als tragendes Element dient.
Zwei Leistungsklassen stehen zur Wahl: 11 kW/15 PS (Dauerleistung: 7 kW) für die A1-Führerscheininhaber und B196er. Und 35 kW/47,6 PS (Dauerleistung: 20 kW) für die A2-Biker. Der Elektroantrieb stammt von Konzerntochter Rotax, die unter anderem auch die konventionellen Antriebe der Can-Am-Onroader Spyder und Ryker liefert sowie die Powerunit des ersten elektrischen SkiDoos der Kanadier. Maximal 72 Nm Drehmoment überträgt der neuartige, flüsterleise E-Antrieb ans Hinterrad. Im komplett geschlossenen Kettenkasten gleitet eine Art SkiDoo-Kette permanent durch ein Ölbad. Ein erster Service ist nach 8.000 Kilometern fällig, dann kundenfreundlich alle 16.000 Kilometer.
Alle E-Komponenten wassergekühlt
Die Leistungsentfaltung des kupplungsfreien Direktantriebs ist E-typisch fulminant. Und wirklich erstaunlich leise. Das turbinenartige Pfeifen, das viele Elektroantriebe entwickeln, hat das 120-köpfige Entwicklungsteam dem ersten Fahrzeug im BRP-Portfolio, das rein auf emissionsfreie Fortbewegung ausgelegt ist, nahezu komplett ausgetrieben. Alle elektrischen Komponenten (Batterie, Inverter, Ladesystem) sind wassergekühlt. „Das bringt zahlreiche Vorteile mit sich“, erklärt André Gilbert, Director Engineering EV. „Es verlängert die Lebensdauer, reduziert den Stromverbrauch und ermöglicht schnelleres, frühzeitigeres Laden.“ Um bis zu 40 Prozent steige die Ladegeschwindigkeit in puncto Kilometer Reichweite pro Stunde Ladezeit, wenn die Zellen nach dem Fahren nicht erst abkühlen müssen und sich der Antriebsakku immer im idealen Temperaturfenster bewegt.
Bis zu 160 Kilometer Reichweite verspricht BRP
8,9 Kilowattstunden (kWh) beträgt die Batteriekapazität, der serienmäßige Onboard-Charger lädt mit 6,6 kW (Level 1 & 2). An der Schnellladesäule füllen die Can-Am-Bikes ihren Akku in 50 Minuten von 20 auf 80 Prozent. Von null auf 100 Prozent dauert es 90 Minuten. Mit 120V statt 240V vergehen etwas mehr als drei beziehungsweise fünf Stunden. Als Stadtreichweite gibt BRP 145 Kilometer bei der Origin und 160 Kilometer bei der Pulse an, kombiniert sind es 115 km und 130 km (WMTC). Bei konstant 80 km/h sinkt die Reichweite auf 84 beziehungsweise 89 km. Bei unseren Testfahrten rund ums malerische Orford in der Provinz Québec kamen die Angaben erstaunlich gut hin. Zumal man den Stromverbrauch im wahrsten Sinne selbst in der Hand hat.
Aktives und passives Rekuperieren
Durch fleißiges Rekuperieren beispielsweise kann Bremsenergie in den Akku zurückgespeist werden. Das Prinzip kennt man von nahezu allen E-Fahrzeugen und E-Motorrädern: „Gasgriff“ schließen, dann wird der E-Motor beim Fahren zum Generator und erzeugt aus der kinetischen Energie der sich noch drehenden Räder Strom, der zurückfließt. So verbrauchen Pulse und Origin nicht nur Energie, sondern laden auch ein bisschen nach – immer wieder, aber nicht endlos. Can-Am hat sich dazu noch etwas Besonderes einfallen lassen: die aktive Rekuperation. Dreht man den „Gasgriff“ über den normalen Anschlagpunkt nach vorn, bremst das Bike per aktiver Rekuperation ab – spürbar und effizient. Bis zu dreimal mehr Energie fließt hierbei zurück in die Batterie, verspricht Can-Am. Vorder- und Hinterradbremse (J.Juan, 320/240 mm) geraten dabei flugs in Vergessenheit, speziell im Stadtverkehr, durch den sich die Bikes easy zirkeln lassen. Mit 177 Kilogramm (Pulse) und 187 kg wiegen sie nicht die Welt, die Zuladung beträgt jeweils 151 kg. Beim Rangieren hilft ein Rückwärtsgang. Die Sitzhöhe beträgt sportlich knappe 784 mm bei der Pulse und recht amtliche 865 mm bei der Origin.
Sechs Fahrmodi für die Origin, vier für die Pulse
Sechs leicht anwählbare Fahrmodi hat Can-Am für die Origin komponiert (Normal, Eco, Rain, Sport, Off-Road, Off-Road+ mit abschaltbarem Hinterrad-ABS), vier für die Pulse (Normal, Eco, Rain, Sport+). Die Rekuperationsleistung (stark oder wenig) kann jeweils eingestellt werden, das Ansprechverhalten des „Stromgriffs“ fällt je nach Bestimmung sanfter oder direkter aus. Eine abschaltbare Traktionskontrolle hält die E-Power standardmäßig im Zaum. In 3,8 Sekunden schießt die Pulse auf Tempo 100, die Origin braucht mit 4,3 Sekunden zwei Wimpernschläge länger. Spitze laufen beide Bikes 129 km/h, dann wird sanft elektronisch abgeregelt. Andernfalls leert sich der Akku zu schnell. Trotz Wasserkühlung.
Katapultstarts an der Ampel
Diebischen Spaß machen Katapultstarts an der Ampel. Beide Modelle schießen lautlos nach vorn und verhalten sich dabei schön stabil. Das Fahrwerk macht seine Sache gut, glänzt aber nicht mit nennenswerten Eigenschaften: Die KYB-Gabel ist jeweils nicht einstellbar. 43 mm misst der Gabelrohrdurchmesser beim All-Terrain-Bike, 41 mm bei der Naked-Version. Hinten kommt ein einstellbares KYB-Federbein (Origin) beziehungsweise ein nur in der Vorspannung verstellbares Sachs-Element zum Einsatz. Die Federwege betragen üppige 225 mm vorn und hinten bei der Origin, jeweils 140 mm sind es bei der Pulse. Die Radkombinationen sind artgerecht: 21 und 18 Zoll bei der Origin, 17 Zoll vorn und hinten bei der Pulse.
Laut José Boisjoli, CEO und Vordenker von BRP, hat das Unternehmen vor vier Jahren entschieden, selbst E-Motorräder zu bauen, statt auf ein Joint-Venture mit einem prominenten Partner zu setzen. „Wir haben im Vorfeld alle denkbaren elektrischen Produkte – Autos und Motorräder – intensiv getestet. Es war nicht eins dabei, bei dem es keine Probleme gab. Das wollten wir ändern – und sind überzeugt, das ist uns auch gelungen.“ Für ihn und seine Vorstandskollegen – alle seit Jahrzehnten im Konzern – sind die Can-Am-Bikes quasi der Tesla der Elektromotorräder. Die Modell-Palette sei auf Wachstum ausgelegt: „Wir sind hier für die langfristige E-Mobilität. Der Nachfrage-Peak nach E-Fahrzeugen mag zwei Jahre her sein, an der Zukunft dieser Antriebstechnologie ändert das aber nichts. Wir sind ready.“
Gekommen, um zu bleiben
Mit BRP tritt ein großer Player auf den Plan. 3.000 Händler in 130 Ländern hat der Konzern, rund 240 sind es in Europa. Der Vertrieb der E-Motorräder soll nicht nur über die BRP-Händler erfolgen. Potenziell käme jeder EV-Händler infrage, der gewisse Mindeststandards erfüllt. „Unser Business ist auf Wachstum ausgelegt“, sagt Boisjoli, der schon mehrfach ein gutes Näschen bewies für Produkte, denen am Markt geringe Chancen eingeräumt wurden, sei es zu Wasser oder zu Land. Begehrlichkeit wecken die neuen E-Motorräder jedenfalls: Die schlanke, eher kantige Silhouette fällt auf im Straßenverkehr, gleiches gilt für das stringente Design und das optionale LED-Tagfahrlicht, das Pulse und Origin aus der breiten Masse herausstechen lässt.
Preise starten bei 16.899,-- Euro
Kommen wir zu den Preisen: Die sind – wie bei E-Motorrädern üblich – leider kein echtes Kaufargument. Bei 16.899,-- Euro geht es los. Dafür gibt es die Can-Am Pulse in „Bright White“ oder „Carbon Black“. Weitere 2.300,-- Euro begehrt Can-Am für das Editionsmodell Pulse 73 (ab 19.199,-- Euro). Das bietet neben der Farbe „Silver Satin“ mit spezieller Grafik auch einen LinQ-Windabweiser sowie besagtes Tagfahrlicht samt Soziuspaket. Beifahrersitz und Fußrasten kosten nämlich extra; ausgeliefert werden Pulse und Origin als Einsitzer. Hinterm Fahrersitz können dann über das von SeaDoo & Co. bekannte LinQ-System verschiedene Boxen und Transportsysteme montiert werden, die für Pendler und Reisende gleichermaßen sinnvoll sind. Die Origin startet in Weiß und Schwarz bei 17.499,-- Euro. Das Editionsmodell Origin 73 in Silber gibt es ab 19.599,-- Euro. Keine Schnäppchen, aber, so José Boisjoli: „Wir glauben, dass wir unseren Kunden ein gutes Angebot machen. Mit der Entwicklung der Elektrofamilie gibt es Raum nach oben und unten“. Fortsetzung folgt. Apple-Fans kommen schon jetzt auf ihre Kosten: Der 10,25-Zoll-Touchscreen beherrscht neben der BRP-App auch Apple CarPlay. Das digitale Leben fährt also immer mit.
Mir geht das ewige Hype um E-Bikes echt auf die Nerven. Klar, flüsterleiser Antrieb und saubere Emissionen sind super und so, aber was ist mit der Seele des Bikes? Diese ganzen neuen Modelle wirken auf mich so steril. Wo bleibt da der Charakter, den ein richtiger Motor mit sich bringt?