Morgens um 07.00 Uhr sollte die Welt noch in Ordnung sein und kein Mensch denkt an was Böses. Aber wenn um diese Uhrzeit der Chefredakteur anruft, sollte ich doch in Zukunft überlegen, ob ich den Hörer abnehme. “Hör mal“, spricht die Stimme zu mir: “Du musst sofort zum Gold Wing Haus Fuchs nach Uslar und eine neue Honda Gold Wing GL 1800 für einen Fahrbericht übernehmen. Schönen Gruß an Tobias Fuchs. Tut, tut, tut.” Mein Redakteur weiß sehr genau, warum er das Gespräch beendet, bevor ich einen Grund nennen kann, warum ich gerade heute nicht kann. Eine Gold Wing und ich, wie passt denn das zusammen? Meine Vorliebe liegt eigentlich bei etwas Leichterem, Buell oder Monster, zumindest aber nackt. Und jetzt ein Motorrad mit Einbauküche! Sogar meine Frau grinst vor Schadenfreude.
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Inhalt:
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Zuletzt aktualisiert: 30.07.2021
Motorräder: Honda Gold Wing GL 1800
Neuheiten 2011: BMW K 1600 GT, Track T-800CDI, Kawasaki Ninja ZX-10R, Triumph Speed Triple
Reisen: Traumstrecke Nizza-Wien - Transalp I, Madeira & Kanaren, Asien-Express, Steigerwald
In Bikecity / Bikerspoint Fuchs angekommen, empfängt mich Tobias Fuchs persönlich. Der “Händler des Jahres 2008” lässt es sich nicht nehmen, mir das Unikum auf zwei Rädern mit acht (8) Zentnern Lebendgewicht persönlich zu er- klären. Mein Gott, was ist das für ein Haufen Schalter und Knöpfe in der Mittelkonsole, den Lenkerenden und in der Verkleidung. Auf die Frage, ob ich alles verstanden habe, nicke ich zaghaft. Tobias weiß, dass mehr Infos nötig sind und reicht mir einen Stapel Lektüre: Bedienungsanleitungen für Bike, Navi, Radio... Gut, dass das Motorrad über riesige Koffer und ein noch größeres Topcase mit insgesamt 157 Liter Stauraum (natürlich mit Zentralfernbedienung) verfügt. Während der Einweisung gesellt sich Detlef Fuchs, der Firmengründer und Vater von Tobias, zu uns. Er demonstriert mir - meine Ehrfurcht vor der GL 1800 muss sich bis in den letzten Winkel der Firma herumgesprochen haben - wie er das, ich wiederhole mich, Achtzentner-Motorrad auf die Seite legt und mit einer Hand am Lenker wieder aufrichtet. “Falls sie mal zum Liegen kommt“ meint er grinsend. Ich bin sprachlos und beeindruckt, der Mann hat nichts von Arnold S an sich. Es liegt am langen Hebel verrät er mir.
So, endlich allein. Jetzt will ich es wissen. Warum gibt es Menschen die so etwas fahren? Ich nehme Platz, und bin angenehm überrascht. Der Sitz - oder soll ich Sessel sagen - und die Lenkergeometrie verhelfen mir zu einer ausgesprochen entspannten Fahrposition. Der ausgeprägte Sitz führt allerdings auch dazu, dass ich beim Anfahren und Halten mit den Zehenspitzen tippele. Sieht nicht sehr gekonnt aus, habe ich aber so auch schon oft beobachtet. Zündung an, vor mir erscheint ein Feuerwerk an Lämpchen. Eigentlich erwarte ich, dass mich eine Stimme zum Ausritt begrüßt. Na ja, kommt vielleicht noch. Der Druck auf den Startknopf verhilft dem flüssigkeitsgekühlten Sechszylinder-Viertakt-Boxermotor mit zwei hocheffizienten geregelten 3- Wege Kat zu einem dumpfen Grollen. Die leichtgängige, weich greifende Hydraulik-Kupplung trennt perfekt. Das praxisgerecht abgestufte Fünfganggetriebe weist kurze Schaltwege und gibt eine klare Rastung vor. Kupplung kommen lassen: Die GL 1800 rollt, nein sie gleitet mit mir dahin. Alles was ich befürchtet hatte, ist dahin. Dieses Motorrad fährt sich völlig entspannt. Der seidige Sechszylinder entwickelt mit 1832 ccm Hubraum ein Drehmoment von 167 Nm bei 4.000 Umdrehungen, wen interessieren da noch die 118 PS oder zu neudeutsch 87 kW? Der 1.692mm lange Radstand sorgt für beschwingte Kurvenhatz durch den Solling. Die Fußrasten kratzen zwar relativ schnell, ich habe das Kratzen allerdings viel eher erwartet. Bereits nach wenigen Kilometern habe ich meine Einstellung zu diesem Motorrad radikal geändert.
Jetzt geht es auf die Rollbahn. Eigentlich das Element, wofür der Supertourer gebaut und entwickelt wurde, Highways oder breite Asphaltpisten hierzulande. 140, 160, 180 km/h, ich merke die Geschwindigkeit nicht. Die um 100 mm manuell höhenverstellbare Frontscheibe hält den Fahrtwind ab. Ich habe nicht einmal das Helmvisier geschlossen, kein Windzug, kein Helmruckeln. Ab 180 km/h stellt sich in lang gezogenen Autobahnkurven ein leichtes Dauerpendeln ein. Ansonsten erlebe ich eine wunderbar neutrale Kurvenlage mit guter Rückmeldung. 200 km/h, meine liebe Frau, die sich mein Gold-Wing-Abenteuer unbedingt aus der Nähe anschauen muss, hat mit Ihrer XB12 schon abgewunken - ja, der Fahrtwind. Ich sollte mein Einstellung zu Naked Bikes überdenken. Sehr gut könnte ich mir schon jetzt mal eben einen Trip zum Eisessen nach München vorstellen. Heizgriffe und Sitzheizung schützen neben der umfassenden Verkleidung vor den Unbilden des Wetters. Der Tempomat als nützliches -, die RDS Radioanlage als kurzweiliges Zubehör sorgen für wirklich entspannten Fahrgenuss - auch bei hohen Geschwindigkeiten. Achtung, die Autobahnausfahrt: Schau`n mir mal, wie die Fuhre, die sich auf 602 kg aufrüsten lässt, herunter bremst. Das überzeugende und serienmäßige Dual CBS der Gold Wing bewirkt bei Benutzung der Hand- und Fußbremse eine situationsangepasste Verteilung der sehr hohen Bremskräfte, auf Hinter- und Vorderrad. Weiter geht es über gut ausgebaute Landstraßen Richtung Harz. Das Ding beschleunigt von Tempo 30 im 5. Gang ohne zu Knurren. Das elektrisch einjustierbare Federbein mit Memoryfunktion erlaubt einen schnellen Wechsel der Fahrwerksabstimmung bei wechselnden Straßenbelägen. Nur beim Bremsen in lang gezogenen Kurven macht sich eine leichte, aber kaum störende Aufstellneigung bemerkbar.
Kurzer Besuch bei meinem Lieblingswirt. Show muss sein! Marius, ein überzeugter Ducatisti, frotzelt mächtig. Ich kann nur erwidern: “So ein Ding muss man mal gefahren haben!” Vom Fahrverhalten, vom Komfort, vom Luxus des in Marrysville (Kalifornien) für die USA gebauten Übertourers bin ich inzwischen so angetan, dass ich ihm gern Paroli biete. Schnell haue ich Marius noch ein paar technische Details um die Ohren. Multireflektor-Scheinwerfer mit elektrischer Höhenverstellung, Moderne Wegfahrsperre (H.I.S.S: Honda Ignition Security System), Kardanantrieb, elektrischer Rückwärtsgang, Doppelprofilrahmen ist aus Alu, Pro – Arm – Einarmschwingen mit Pro-Link-System und - natürlich - Airbag! Ruhig wird er aber erst, als ich ihm er kläre, dass das Ventilspiel, dank der direkten Betätigung der je zwei Ventile pro Zylinder über Tasselstößel, erst nach 24.000 Kilometern nachjustiert werden muss. Kaufen wird er sich aber wohl doch keine Gold Wing GL 1800.
Zeit für die Heimfahrt. Inzwischen ist es dunkel. Nach wenigen Metern halte ich und verstelle die Frontscheibe auf die niedrigste Stufe. Die Sicht durch die Scheibe empfinde ich bei diesen Lichtverhältnissen als nicht ausreichend. Jetzt schaue ich halt drüber weg. In meiner Garage, in der die GL 1800 übernachten soll, muss ich erst Platz schaffen. Die Honda hat eine Länge von 2.635 mm und eine Breite von 945 mm, die Gesamthöhe beträgt 1.455 mm ohne Antenne. Und diese kratzt gewaltig an meinem Garagenschwingtor. Dieses Motorrad benötigt eine eigene Garage und bei einem Kaufpreis von rund 31.300,-- Euro (mit Navi und Airbag) hat sie die auch verdient. Am nächsten Morgen steht der Fototermin an. Schnell befreie ich die Verkleidung samt der Frontscheibe von den Überbleibseln der rasanten Autobahnfahrt. Das dauert allerdings doch etwas länger als bei der Cockpitverkleidung meiner Monster.
Am inzwischen herbstlich angehauchten Sösestausee entstehen unsere Bilder. Noch immer habe ich sehr viel Respekt vor dem Gewicht der Gold Wing. Gerade auf feuchtem Rasen oder lockerem Kies ist das Herumrangieren, trotz Rückwärtsgang, nicht ganz unproblematisch. Deshalb bin ich froh, als es weiter geht. Vor dem nächsten Fotostop zeige ich einem GS 1200 Piloten nebst Sozia, wie man mit einer GL 1800 selbst auf etwas holpriger Piste um die Kurve kommt. Na ja, er hatte ein Flachlandkennzeichen und ich entschuldige mich hier öffentlich für die Demütigung. Frank hat seine Bilder bald im Kasten, und ich genieße noch ein paar Stunden den herrlichen Vormittag im Harz. Großes Lob gibt es noch einmal für die per Knopfdruck abrufbaren Fahrwerkseinstellungen. Zu keiner Zeit merke ich das hohe Fahrzeuggewicht. Eigentlich wollte ich es gar nicht ansprechen, ich habe es aber ausprobiert, das Lücken springen in Autokolonnen. Es geht und zwar total unproblematisch.
Hohes Drehmoment gepaart mit überzeugender Handlichkeit und kraftvollen Bremsen machen die Fahrt zu einem Erlebnis der besonderen Art. Leider geht der entspannte Ritt dem Ende entgegen. Nun interessiert mich, was in das - für die übrigen Dimensionen des Bikes mit 25 Liter Tankinhalt doch eher bescheiden ausgelegt - Fass zwischen meinen Beinen wieder hinein passt. Grob geschätzt liege ich bei einem Verbrauch von 6,5 Liter / 100 km, für die Autobahn bei Tempo 170 rechne ich ein Drittel Sprit hinzu. 1,8 Liter Hubraum wollen versorgt sein. Erwähnenswert ist noch, dass die Produktion in den USA eingestellt wurde. Zukünftige Gold Wings werden ab 2012 wieder aus Japan importiert. Inzwischen komme ich zurück nach BikeCity, inzwischen Uslars inoffizieller 20. Ortsteil, mit 1.200 m² Ausstellungsfläche, 300 m² Werkstatt, 550 m² Lager und 220 m² Gastronomie. Logisch stellt das alles einen Anziehungspunkt nicht nur für Winger dar .
Tobias Fuchs empfängt mich mit einem breiten Grinsen. Ich vermute, er weiß, wie ich empfinde. Meiner umfassenden Schilderung der positiven Eindrücke beantworte er ohne Überheblichkeit mit den Worten: “Geht fast allen so, erst lästern und anschließend voll des Lobes.” So ist es halt und ich muss schmunzeln, als ich darüber nachdenke, dass ich eigentlich nichts mit Boxermotor und Kardan fahren wollte. Aber die Honda Gold Wing GL 1800 nehme ich jederzeit wieder. Und für die Zukunft gilt: Lästere nie über ein Motorrad, das du noch nicht gefahren bist.