Bella Italia ist der Nabel der Motorradwelt in Europa. Hier sitzen die großen Zulieferer wie Brembo und Pirelli, hier sind legendäre Hersteller zu Hause wie Ducati, Aprilia und Moto Guzzi, hier entwerfen Dainese, Alpinestars und Spidi ihre Bekleidung, AGV und die Nolangroup ihre Helme, hier findet die wichtigste Motorradmesse der Welt statt (EICMA) und hier ist der größte EU-Markt für Motorräder und Motorroller. 269.000 Bikes mit mindestens 125 ccm Hubraum wurden 2021 neu zugelassen in Italien – 70.000 Maschinen mehr als in Deutschland und ein saftiges Italo-Plus von 23,9 Prozent im Vergleich zum ersten Pandemiejahr. Rom, Hauptstadt am Tiber, gilt als Mekka der Beinschildbikes mit 125 bis 350 Kubik. Und wo kommen die in der Regel her? Genau, aus Italien. Und wer baut sie? Honda! Äh, bitte wer? Klingt kurios, ist aber so: Die Japaner sind in der Heimat von Pizza, Pasta, Primitivo mit Abstand Marktführer vor der heimischen Piaggio-Gruppe.
Japanische Qualität aus dem Süden Italiens

1971 startete Honda die Produktion in Atessa. Ein Segen für die strukturschwache Region, die außer Bergen, Nationalparks und der Nähe zur Adria wenig zu bieten hat. In den ersten Jahren wurden nur in Japan gefertigte „Completely Knocked Down“-Maschinen – kurz CKD-Bikes, also zerlegte Motorräder – wieder zusammengeschraubt für den heimischen Markt. 1982 avancierte die XL125 zum ersten „eigenen“ Modell von Honda Italia. Es folgten Ikonen wie Hornet 600 (ab 2001) und CB1000R (ab 2008). Heute baut Honda im Süden Italiens den erfolgreichsten Roller Europas. Bis auf wenige Teile (u. a. Sitzbank, Cockpit) von benachbarten Zulieferern werden alle Komponenten inhouse gefertigt – vom Schwingarm über den Heckträger bis zum Rahmen, sogar das Topcase in zwei Größen (35 l, 45 l). Alles Made in Italy – darauf sind sie sehr stolz.
Der SH-Roller ist die neue Vespa
Hondas „SH“ ist in Italien längst das, was jahrzehntelang „die Vespa“ war: das Synonym für einen klassischen Roller. Er belegt die Plätze eins (SH125i), zwei (SH350i) und drei (SH150i) der Roller-Neuzulassungsstatistik. Alle 90 Sekunden verlässt ein fertiges Bike die Endmontage in Atessa. Neben dem SH laufen hier auch die Großradroller Forza und ADV350 von den Linien – und die CB125F.Die drei Roller erwarten uns vorm Hotel Novotel Roma Est, startbereit für „The Italian Connection“. Wir treffen die führenden Designer des Honda Research & Development Center (R&D) in Rom, die „Köpfe“ hinter europäischen Erfolgsmodellen wie CB650R, CRF1100L Africa Twin und X-ADV, fahren dann quer durchs Land rüber an den Apennin, besichtigen das Abruzzen-Werk und pesen zurück an die Westküste, in die Heimat von Petersdom und Kolosseum. Garniert wird das Ganze mit ausgiebigen Fahreindrücken auf den Atessa-Modellen ADV350, Forza 350 und SH350i.
Dream Dealer mit eigener Gastronomie


Mit ersten „Sketches“ fängt die Arbeit an

Dieses Wissen dann in die Honda-Formensprache zu übersetzen und mit den Auflagen und Vorstellungen der übrigen Abteilungen in Einklang zu bringen, nimmt – neben der rein kreativen Arbeit – viel Zeit und Raum ein im Arbeitsleben von Motorrad-Designern wie Luca Caruso, der sich unter anderem um Bestseller-Scooter wie SH125i und SH150i kümmert, oder Valerio Aiello, der u. a. die Concept-Bikes CB4 (die spätere Neo Sports Café-Familie) und CB4X (EICMA 2019) auf den Weg brachte. Die vor uns liegenden Skizzen und das Designkonzept der neuen Hornet stammen aus der Feder von Giovanni Dovis. Der 28-jährige Designer ist seit sieben Jahren bei Honda. Zuletzt zeichnete er für den optischen Auftritt des „New Urban Scooters“ ADV350 verantwortlich.
„Formale Reinheit mit Funktionalität verknüpfen“
„Die Design-Philosophie von Honda zielt darauf ab, formale Reinheit mit Funktionalität zu verknüpfen, um Modelle zu schaffen, die schön als auch schlicht anmuten sowie emotional ansprechen“, erklärt Giovanni. „Das Designkonzept der Hornet soll mit schlanken Proportionen, spitzer Heckpartie und scharfen Linien Agilität, Dynamik und Leichtigkeit vereinen – und die sportliche Bestimmung der Hornet untermauern.“ Rein privat bevorzugt Giovanni Scrambler. „Ich bin nicht so der Challenge-Typ“, grinst er. Außer natürlich im Job. „Jeder von uns hat grundsätzlich das Interesse, seine Vorstellungen eines Bike möglichst exakt umzusetzen. Aber in der Praxis zeigt sich immer wieder, wie wichtig und inspirierend der Teamspirit ist.
280 km quer durchs Land von Rom nach Atessa

Innerhalb unseres Roller-Trios zieht der Crossover die meisten Blicke auf sich. Und das nicht nur, weil er neu auf dem Markt ist: Der ADV350 ist ein durch und durch stimmiger Scooter.
Eine Triebsatzschwinge für alle

Wir verlassen Rom auf der Autostrada 24 und fahren über Mandela nach Arsoli. Kurz dahinter geht es auf die SS 5 und dann – nach einer weiteren Autobahnetappe – über die SS 696 und Popoli nach Francavilla al Mare. Kurze Eis-Pause, dann Schlussspurt zum Hotel Supporter in Fossacesia. Von hier aus sind es am nächsten Morgen noch gut 25 Kilometer bis ins Werk. Aber erst mal was futtern: Unten am Strand wartet das Restaurant Trabocco. Es steht auf Stelzen im Wasser und kredenzt fangfrischen Fisch. Ein Traum, Ambiente wie Essen. Unterwegs war „bike swap“ angesagt – Fahrzeugwechsel. Mein neues Gefährt fürs letzte Drittel der Strecke bis zu unserer schneeweißen Deluxe-Herberge: der Forza 350. Und siehe da: ganz was anderes. Der große Windschild fährt hier elektrisch auf und ab, der Fußraum ist etwas knapper bemessen als beim ADV350, die Sitzposition fällt etwas „scooteriger“, weil aufrechter aus. Front, Verkleidung und Cockpit unterscheiden sich stilistisch vom ADV350. Der Fahrspaß bleibt. Der 330er-Motor hängt freundlich-kooperativ am Gas. Das CVT-Getriebe „zieht“ dich hörbar die Tachoskala hoch, die Tonlage bleibt aber vergleichsweise dezent. Gediegen wirkt er, der Forza, abgeklärt und eher luxuriös, fast wie eine Sänfte. Das Staufach unterm Sitz ist riesig wie beim ADV350. Die Video-Journalisten im Tross jubeln: endlich mal kein Gepäck auf dem Rücken.
Rote Masken, weiße Hemden, grüne Mützen

Rund 140.000 Quadratmeter umfasst das Werksgelände heute. Beim Start vor mehr als 50 Jahren war die bebaute Fläche noch deutlich kleiner, 1996 hat Honda die Produktionsfläche verdoppelt und bis heute kontinuierlich ausgebaut. 18 Zulieferer haben sich in der Region angesiedelt und fertigen „just in time“ fürs Werk. Rund 118.000 Maschinen sollen im Geschäftsjahr 2022 (läuft bis März 2023) das Werksgelände in der Via Genova per Lkw verlassen. Ein Ausbau der Kapazitäten nach oben ist jederzeit möglich. Dafür müsste dann wieder im Dreischichtbetrieb gearbeitet werden. Derzeit sind es je nach Abteilung meist zwei (8–17 Uhr/17–24 Uhr). Marcello Vinciguerra, Managing Director von Honda Italia, scharrt jeden Freitag seine Werksmanager um sich zum Krisen-Meeting. „Covid ist nach wie vor ein Problem, was die Planung betrifft. Unabwägbarbeiten in den Lieferketten führen dazu, dass eingespielte Abläufe immer wieder neu abgestimmt und angepasst werden müssen.“ Aber nun, nach mehr als zwei Jahren Pandemie ist auch das Routine. Atessa brummt. Nicht zuletzt dank des SH. 2017 hat der Scooter die Millionenmarke geknackt. Eine Ende der Nachfrage ist derzeit nicht in Sicht.
Auftakt zur Werksführung in der Hall of Fame

Giuseppe Naturata kennt sie alle. Der Ingenieur leitet unsere Werksführung. An jeder vorbereiteten Station übergibt er sein Mikrofon an einen Spezialisten der jeweiligen Abteilung. Über Kopfhörer erfahren wir Details über die hochzyklische Druckguss-Verarbeitung von Aluminium, die Anforderungen beim Lackieren, das Schweißen der Rahmen, das Zusammensetzen der Motoren, den Takt der Bänder, wo innerhalb weniger Minuten die Modelle gewechselt werden können, die Arbeitsschritte bei der Endmontage und und und. Eine Welt für sich, so viel steht fest. Fabrikarbeit ist was für Doofe? Wer das heute noch glaubt, ist selbst doof.

Mechaniker treibt das speziell bei den Großradrollern regelmäßig an den Rand des Wahnsinns: Um beispielsweise an den Motor zu kommen, müssen an manchen Modellen erst zig geclippte Verkleidungsteile entfernt und dann jede Menge Schrauben gelöst werden. Den Kunden hingegen freut es im Alltag: Der Anblick ist absolut clean. Honda eben.
Jeder Handgriff muss sitzen
Wie diese Perfektion erreicht wird, erlernen neue Bandmitarbeiter im „Technical Training Centre“, einem abgetrennten Bereich mitten in einer der Werkshallen. Hier montieren und demontieren sie immer wieder das gleiche Teil. Üben, üben, üben. Frontgabel rein, Frontgabel raus, Frontgabel rein, Frontgabel raus. Jeder Griff muss sitzen. Die Stoppuhr läuft mit. Den vielleicht entspanntesten Job im Werk hat der Testfahrer in der Homologation, auch „Hingi“ genannt. Der Begriff stammt vom japanischen „Seizou Hinshitsu Gijutsu“, schnöde übersetzt Produktentwicklungstechnologie.
Drei Roller, drei Charaktere

Neulich an irgendeinem Flughafen dieser Welt sinnierten ein Kollege und ich über den Sinn und Zweck der riesigen, meist ziemlich dreckigen Windschutzscheiben, die vor allem in Italien nahezu jeden Roller befenstern. „Die Teile fangen den Schmutz ab. Und ersparen dir das Visier“, meinte der mondäne Kollege. Ich nickte damals Verständnis vorgaukelnd. Und weiß jetzt, nach ca. 150 Kilometern auf dem Honda SH350i: Jo, genau so ist es. Ab und ran recke ich den Hals nach rechts oder links, um zumindest ein bisschen die Nase in den Wind zu halten. Denn hinter dem Windschild des SH ist: gar nichts. Kein Fahrtwind. Null Komma nix. Irre. Man lernt nie aus.
Aufrecht sitzend wie einst Fräulein Rottenmeier
Die Sitzposition ist erneut anders: Aufrecht wie Heidis Gouvernante Fräulein Rottenmeier auf dem Damenrad lenkt man seinen SH durchs Verkehrsgewusel. Der Lenker ist schmaler als bei Forza 350 und ADV350. Klar, ist ja auch primär für die Stadt bestimmt, der SH. Je schmaler, desto besser. Gilt auch fürs Auf- und Absteigen. Parken zwischen Myriaden von anderen Rollern? Kein Problem mit dem SH125i/150i/350i: Der topfebene Durchstieg ermöglicht ein Rauf und Runter in beide Richtungen; das bieten die Geschwister nicht. Viel mehr als zwei Füße in Schuhgröße 43 bekommt man allerdings auch nicht unter auf den kurzen Trittbrettern. ADV350 und Forza 350 ermöglichen deutlich mehr Bewegungsfreiheit und Fußabstellvariationsmöglichkeiten. Und mehr Stauraum unterm Sitz.Fazit
