Kein Zweifel: Die Nachfrage nach Motorrädern in der Klasse von 300 bis 400 Kubik Hubraum steigt – sogar im hubraum-geilen Deutschland. Jetzt kommt mit der Benelli Imperiale 400 eine weitere 400er auf den deutschen Markt: Klassisch von den Speichenrädern bis zur Tank-Sitzbank-Linie mit hübschen Accessoires wie Kniekissen am Tank, Kotflügeln aus massivem Blech, allerlei Chrom-Zierrat und zwei Rundinstrumenten im Cockpit. Angesichts einer Motorleistung von 21 PS erscheint der Beiname „Imperiale“ für die Benelli 400 zwar ein wenig hoch gegriffen, aber lassen wir’s mal als versuchten Griff nach den Sternen durchgehen. Denn auch mit lediglich 21 PS kann sich der Fahrer angemessen motorisiert fühlen, sofern er die richtigen Straßen für seine Exkursionen ausgewählt hat. Was selbstredend natürlich auch für eine Fahrerin gilt.
Die Marktchancen für kleine Motorräder sind optimal
Mit der
KTM 390 Duke, der
BMW G 310 R sowie den beiden Royal Enfields
Meteor 350 und
Classic 350 haben es in diesem Jahr (Stand Ende Mai) vier dieser kleinen Motorräder in die Top-50-Hitliste des Industrieverbandes Motorrad in Deutschland (IVM) geschafft, während zum Jahresende 2021 erst zwei Motorräder dieser Hubraumkategorie so weit vorne gelandet waren. Daraus darf die Benelli Deutschland GmbH mit Sitz in Weiden/Oberpfalz durchaus Hoffnung schöpfen, dass die in China gebaute, aber in Italien am alten Benelli-Firmensitz in Pesaro entwickelte Vierhunderter gute Marktchancen hat. Es war erstaunlich, wie viele neugierige Fragen dem Autor dieser Zeilen von Passanten gestellt wurden und wie häufig ein Lob in der Art von „sieht super aus...“ er zu hören bekam. In der Tat gibt es keine echten Stilbrüche, beschaut man sich die optisch in den 1950er-Jahren angesiedelte Benelli Imperiale 400 beispielsweise von schräg rechts vorne. Ein schwarz lackierter Rundscheinwerfer mit Chromring und Halogen-Glühbirne zeugt genauso von Stilsicherheit wie die großen runden Blinker oder die Form des Edelstahlauspuffs im Peashooter-Stil, die Speichenräder und die 41-mm-Teleskopgabel. Für einen Preis von 3.999 Euro plus 300 Euro Liefernebenkosten erscheint die kleine Chinesin mit den Italo-Wurzeln keinesfalls überteuert.
Massiv und stämmig
Auch wenn die Benelli Imperiale 400 ein zwar vollwertiges, aber eben doch kleines Motorrad ist, so ist sie ganz schön stämmig ausgefallen. Der kräftige Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, die ebenfalls aus Stahl gefertigte Kastenschwinge oder die sehr massiv wirkenden Fußrastenhalter und der ungeschlachte Fußbremshebel aus Rundstahl signalisieren, dass ein niedriges Fahrzeuggewicht nicht ganz oben im Lastenheft der Entwickler stand. Mit 205 Kilogramm ist die Benelli beispielsweise deutlich schwerer als die in derselben Hubraumklasse angesiedelte
Royal Enfield Scram 411, die mit ihren 192 Kilo ja ebenfalls nicht in die Leichtgewichtskategorie fällt. Erlaubt ist die angesichts der Hubraumklasse hohe Zuladung von 190 Kilo. Kräftig wirkt die Imperiale aber auch ob ihrer großen Räder: Das vordere Rad weist einen Durchmesser von 19 Zoll auf, das hintere ist ein 18-Zöller. Montiert sind auf den wunderschönen Speichenrädern mit Leichtmetallfelgen chinesische Maxxis-Pneus des Typs Promaxxis Classic im Format 100/90-19 vorne und 130/80 hinten.
Der Hauptständer steht engagierten Kurvenfahrten im Weg
Die Reifendimensionen sind passend gewählt: Das Einlenken in Kurven erfolgt ausgesprochen leicht, auch Wechselkurven gehen dank der sparsamen Reifendimensionierung und auch wegen des angenehm breiten Stahlrohrlenkers aus verchromtem Rundrohr leicht von der Hand. Der Geradeauslauf ist bis hin zur Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h unauffällig gut, Kurven werden stabil umrundet. Allerdings missfällt der ziemlich weit herunterhängende Hauptständer; er bekommt als erstes Bodenkontakt, wenn man Kurven sehr engagiert angeht. Insgesamt ist die Boden- und Schräglagenfreiheit aber in Ordnung, denn vom Gesamtcharakter her ist die Imperiale 400 kein Motorrad, mit dem man ausfährt, um’s „krachen“ zu lassen.
Satter Sound, moderater Verbrauch, hohe Reichweite
Solchem Tun steht in den meisten Fällen auch die mit 21,1 PS bescheidene Maximalleistung entgegen; der langhubig ausgelegte, luftgekühlte 374-Kubik-Zweiventil-Einzylindermotor mit oben liegender Nockenwelle entwickelt sie bei bescheidenen 5.500 U/min. Das maximale Drehmoment von 29 Nm drückt das Triebwerk bei 4.500 U/min. auf die Kurbelwelle. Entsprechend diesen Daten darf das Triebwerk auch im praktischen Fahrbetrieb als elastisch und durchzugsstark gelten; zumeist ist man zwischen 2.500 und 5.000 Touren unterwegs, jenseits der Nenndrehzahl lässt die ansonsten durchaus spürbare Drehfreude schnell nach. Erstaunlicherweise dreht die Maschine bei Vmax vollständig aus und sogar höher: Mehrfach lasen wir vom Tacho 140 km/h ab, wobei der Drehzahlmesser stolze 6.100 U/min. anzeigte. Praktiziert man diese eigentlich nicht fahrzeugadäquate Fahrweise, ist der Normverbrauch von 3,1 Liter pro 100 km natürlich nicht zu erreichen; beim Nachtanken ermittelten wir bei 50 Prozent Autobahn-Vollgas einen Verbrauch von 3,8 Litern/100 km. Der immerhin 12 Liter große Tank ermöglicht also Reichweiten von zumindest 300 Kilometern – und mehr. Denn mit einem geringeren Vollgasanteil als auf der genannten Tankfüllung dürfte der Verbrauch deutlich sinken. Wie der satte Sound, so gefällt auch der Motorlauf ausgesprochen gut: Es entstehen ausschließlich „good vibes“, sodass trotz der bescheidenen Leistung häufig ein deutliches Grinsen im Gesicht des Fahrers Platz greift. Das Fünfganggetriebe spielt zusammen mit der leichtgängigen Kupplung bestens mit: Es arbeitet ausgesprochen geschmeidig und ist gut abgestimmt. Einen in der Weite einstellbaren Kupplungshebel weist die Benelli nicht auf, aber einen einstellbaren Bremshebel.
Auf kleinen und kleinsten Straßen steigt der Spaßfaktor
Um wirklichen Fahrspaß zu haben, gilt es natürlich, große und breit ausgebaute Überlandrouten zu meiden, auf denen Pkw mit hohen Geschwindigkeiten und viele Lkw unterwegs sind. Denn Überholen fällt jenseits der 80/90 km/h nicht leicht; man braucht in diesem Geschwindigkeitsbereich doch eine lange freie Strecke. Bewegt man sich auf kleinen und kleinsten Straßen mit geringer Verkehrsdichte, steigt der Spaßfaktor sofort auf einen Level, der mit vielen anderen Motorrädern nur schwer oder aber erst im sehr hohen Tempobereich erreichbar ist. Ja, die Benelli Imperiale 400 ist – im passend gewählten Geläuf – ein richtiges Spaßmotorrad! Gut dran ist natürlich derjenige, der seine 125er-Zeiten noch nicht vollständig vergessen hat und das Fahrprinzip „immer laufen lassen“ noch abrufen kann.
Bremsleistung und Federweg der Imperiale 400 überzeugen
Zum Halten kommt man sehr gut: Vorne beißt eine Zweikolbenzange ordentlich in die 300er-Scheibe, hinten unterstützt eine Einkolbenzange, die auf eine 240er-Scheibe zugreift. Das ABS ist notfalls mit einer sauberen Regelung zur Stelle. Mehr Bremse für 21 PS ist nach meiner Meinung zwar möglich, aber nicht wirklich erforderlich. Denn wie gesagt: Der Grundcharakter der Benelli ist von der defensiven Art. Die 41-mm-Telegabel mit 121 mm Federweg erscheint gut brauchbar, die beiden in der Vorspannung einstellbaren Stoßdämpfer am Heck bieten 92 mm Federweg und eliminieren zusammen mit dem ordentlich gepolsterten, ausreichend großen Sitz die üblichen Widrigkeiten des Asphalts zufriedenstellend.
Fazit – Benelli Imperiale 400
Für gerade 4.000 Euro plus Liefernebenkosten bietet die Benelli Imperiale 400 auf den zu ihr passenden Straßen einen ausgesprochen hohen Fahrspaß, wenn man sich mit gerade mal 20 PS zufriedengeben will. Trotz der geringen Motorleistung ist die Italo-Chinesin aber ein vollwertiges Motorrad; wir erreichten im Mix Autobahn/Landstraße einen Schnitt von gut 100 km/h. Ihre stilsichere Formgebung, aber auch die recht gute Verarbeitung und die gute Ausstattung – wir halten gute Chromspiegel, eine keineswegs ärmliche Instrumentierung, den verstellbaren Bremshebel, die Edelstahlauspuffanlage und den Schlüssel mit Klapp-Bart fest – lassen die Benelli Imperiale 400 preiswert erscheinen. Für Einsteiger mit einem Faible für Retrobikes, aber auch für erfahrene Leute mit Sinn für sparsame Motorisierung erscheint die Benelli Imperiale 400 durchaus als Empfehlung.
Pro - stimmiges Retrobike
- angenehmer Motor, guter Sound
- sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis
Contra - 21 PS sind halt nur 21 PS
- tief hängender Hauptständer