Fahrbericht Royal Enfield Classic 650 Twin – Pött-Pött-Pött hoch zwei
Royal Enfield baut seinen 47-PS-Twin jetzt auch in die urige Classic ein. Die gewinnt damit in jeglicher Hinsicht: Größe, Power, Fahrspaß. Erste Testfahrt.
Newcastle upon Tyne ist die nördlichste Großstadt Englands. Und die Wiege der modernen, seit 2009 mit Einspritzmotor gebauten Royal Enfield Classic. „Hier fing damals alles an“, sagt Mark Wells, Chefdesigner der britisch-indischen Marke und einst Student in Newcastle, wie die meisten die Stadt an der Tyne schlicht nennen.
Ein Bike, so entspannt wie die Geordies
Der lokale Dialekt – für ausländische Ohren leicht schottisch geprägt – heißt Geordie und so werden auch die Einwohner genannt, hier und in der Grafschaft Northumberland. Das einstige Kohlerevier an der Grenze zu Schottland ist die am dünnsten besiedelte Region Englands. Auf über 5.000 Quadratkilometern verlieren sich rund 310.000 Einwohner. Das macht die Region zu einem Paradies für Motorradfahrer. Und die Geordies zu höchst entspannten Menschen.
Schmale, knorrige Straßen winden sich durch die immergrüne Landschaft. Ein steter Wind fegt über die unzähligen Hügel und Kuppen. Das Licht hüllt dich mancherorts ein wie eine Kaschmirdecke. „It is a breathtaking, peaceful area“, sagt Wells. Eine atemberaubende, friedliche Gegend. So friedlich wie die Ausstrahlung der Royal Enfield Classic, des vermutlich einzigen Motorrads der Welt, das immer noch aussieht, als stamme es direkt aus der Nachkriegszeit (oder sogar der Zeit davor). Was in gewisser Weise auch stimmt, auch wenn Wells ihre heutige Form hier in Newcastle skizzierte. Ein Grund mehr, im malerischen Nordengland und nirgendwo anders zur Premiere und ersten Testfahrt der neuen Classic 650 zu laden.
„Classic wichtigstes Bike der Company“
„Die Classic ist das wichtigste Bike der Company“, sagt der groß gewachsene Designer. Wie kein zweites Modell steht der unverwüstliche Single für die Historie der 1901 in England gegründeten Marke. 1955 wurde die Fertigung nach Madras in Indien verlegt. Heute gehört Royal Enfield zum indischen Großkonzern Eicher Motors Limited. In Oragadam und Vallam Vadagal, nahe Chennai, stehen moderne Fabriken. Hinzu kommen fünf Fertigungsstätten (CKD) in Nepal, Brasilien, Thailand, Argentinien und Kolumbien für die weltweiten Märkte. 2023 verkaufte Royal Enfield rund eine Million Motorräder mit Ein- und Zweizylindermotoren. Tendenz steigend, Modelldichte auch.
Einsitzer mit Sozius-Option
Fans der Royal Enfield Classic mussten sich in jüngster Zeit mit 350 ccm Hubraum und 20 PS begnügen. Ihr Vorläufer, die Bullet Classic 500, brachte es immerhin noch auf 27 PS. Seit der Euro-5-bedingten Umstellung auf die Classic 350 bewegen 27 Newtonmeter das Bike mit viel Anlauf und stromlinienförmiger Sitzhaltung auf 114 km/h Spitze. Klingt alles andere als mitreißend, aber wer einmal auf einer Classic saß, sieht die Welt mit anderen Augen. Der Einsitzer mit Sozius-Option erdet dich wie kaum ein anderes Motorrad. Geschwindigkeit verliert an Bedeutung. Dafür kommst du überallhin, komplett entspannt und mental runderneuert. Der Weg ist das Ziel. Ob Asphalt, Matsch oder Modder – völlig egal. Das Pött-Pött-Pött des Einzylinders bringt dich, wohin du willst. Manche sagen, es macht dich sogar zu einem besseren Menschen. Sollte das stimmen, läutet die langersehnte Classic 650 vermutlich den noch ersehnteren Weltfrieden ein.
47 PS bei 7.250 Touren, 52 Nm bei 5.650 Umdrehungen pro Minute, rund 150 km/h Spitze – der Parallel-Twin mit 648 ccm Hubraum ist ein alter Bekannter und allseits beliebt: Er arbeitet bereits in den Modellen Interceptor, Continental GT, Super Meteor und Shotgun sowie künftig auch in der neuen Bear 650. Royal Enfields Zweizylinder-Allzweckwaffe überzeugt mit druckvoller Beschleunigung, kernigem Zweizylinder-Sound und geringem Verbrauch (ca. 4,5 Liter/100 km). Zur Classic passt er wie die Faust aufs Auge. Er verdoppelt nicht nur die Leistung, er lässt das gesamte Bike wachsen.
1.475 statt 1.390 mm Radstand, 2.318 statt 2.145 mm Länge, 892 statt 785 mm Breite, Tankinhalt 14,8 statt 13 Liter, 6 statt 5 Gänge. Basis ist der Stahlrohrrahmen, der auch die Super Meteor 650 und die Shotgun 650 trägt. Letztere liefert quasi die konstruktive Blaupause. 240 Kilogramm bringt sie mit Leichtmetallgussrädern auf die Waage, 243 kg sind es bei der Classic 650 mit Speichenrädern und größerem Tank (+ 1,0 Liter). Zum Vergleich: Die Classic 350 wiegt lediglich 195 kg fahrbereit. Der Verbrauch mit fast 50 kg weniger und nur einem Zylinder beträgt schmale 2,6 l/100 km.
Tiefenentspannte Sitzposition
Die Sitzposition auf der Classic 650 Twin ist absolut tiefenentspannt. Mit 800 mm Sitzhöhe ist sie 5 mm höher als die Shotgun 650 und 5 mm niedriger als die Classic 350. Die Bodenfreiheit beträgt 154 mm. Der relativ breite Lenker befindet sich in optimaler Entfernung zum Einzelsitz. Der gefällt mit gesunder Härte. Für den Soziusbetrieb gibt es wie bei der Shotgun einen Fix montierten Hilfsrahmen samt Sitzkissen. Das maximale Gesamtgewicht beträgt 407 kg, macht 164 kg Zuladung. Nicht die Welt, aber nun: Die Bestimmung der Classic ist eher der Alleinbetrieb. Wie bei der Shotgun 650 müssen 90 mm Federweg hinten reichen, vorn an der Teleskopgabel (43 mm) sind es 120 mm. Wer meint, seine Classic bevorzugt im oberen Drehzahl- und Geschwindigkeitsbereich bewegen zu müssen, wird an der werksseitigen Einstellung der Stereofederbeine (wie die Gabel von Showa) nur eingeschränkt Freude haben: Das teils nickelige Geläuf Northumberlands beispielsweise schickt bei forscher Gangart durchaus den einen oder anderen Gruß in Richtung Lendenwirbelsäule. Die einstellbare Federvorspannung schafft hier Abhilfe.
Viel Chrom und „Real Steel“
Optisch gilt: Chrom, so weit das Auge blickt. Lenker, Spiegel, Lampenring und -schirm, Auspuffanlage, Motorgehäuse – alles glänzt und blitzt und funkelt. Mit Ausnahme der Blinker ist hier alles aus Metall. „Real Steel“, gemacht für die Ewigkeit. Vier Farbvarianten hat sich Royal Enfield für den Start 2025 überlegt: Die zweifarbigen Lackierungen „Vallam Red“ (eine Art Burgunderrot mit Cremeweiß), „Bruntingthorpe Blue“ (Blau mit Weiß) und „Black Chrome“ (Schwarz mit verchromten Schutzblechen samt Tank) ergänzen wunderbar die klassischen Konturen des Motorrads. Ziemlich crazy kommt „Teal Green“ rüber: Gabelholme, Scheinwerfergehäuse, Schutzbleche, Seitenverkleidung, Rahmen und bei der Pressetest-Maschine sogar der Seitenständer – alles ist hier in Türkis-Grün-Metallic lackiert und fein mit goldenen Linien verziert. Der Tank ist weiß abgesetzt. Ein ausgesprochen aufmerksamkeitsstarker Look.
Cockpit mit „Tripper“-Navigation
Das im Lampengehäuse sitzende Cockpit gibt es in der Grundform seit Urzeiten bei Royal Enfield. Bei der großen Classic bekommt es eine kleine „Tripper“-Pfeilnavigation und ein großes LC-Display für Kilometerzähler, Tageskilometerzähler, Tankanzeige, Service-Erinnerung, Ganganzeige und Uhr. Gestartet wird per Schlüssel. Die reduzierten Bedienelemente stammen allesamt aus dem Konzernregal und werfen keinerlei Fragen auf. Für die Aktivierung der Navigation bedarf es der Royal-Enfield-App und natürlich eines Smartphones. Immer wieder eine Augenweide ist der verchromte Lampenring mit „Schirmchen“, quasi das „i“-Tüpfelchen des Classic-Designs.
Post-War-Bike mit Gute-Laune-Garantie
Der Charakter des Post-War-Bikes bleibt auch mit dem Parallel-Twin erhalten. Die Classic 650 verleitet nicht zum Rasen, lässt sich jetzt aber durchaus forsch bewegen. Die Gänge rasten sauber ein, die Mehrscheibenkupplung hat leichtes Spiel. Vorn und hinten greift ein Zweikolben-Schwimmsattel ins Geschehen ein, wenn Tempo aus dem Spiel genommen werden soll. An beiden Rädern (vorn 19 Zoll, hinten 18 Zoll) reicht jeweils eine Scheibe mit 320 mm (vorn) beziehungsweise 300 mm Durchmesser. Der runde (was sonst?) LED-Scheinwerfer garantiert eine moderne Lichtausbeute. Rechts und links flankiert ihn jeweils ein weißes Positionslicht. Auch das ist eine Hommage an die Vergangenheit von Royal Enfield, genau wie die externe Halterung des hinteren Kotflügels. Beides schmückt auch die Einzylinder-Classic. Die genauen Preise für Deutschland stehen noch nicht fest. In England startet die Classic 650 in „Vallam Red“ bei 6.499,-- GBR, in Frankreich kostet sie ab 7.090,-- Euro. Die endgültigen Einzelhandelspreise für die Region EMEA werden je nach Markt vor dem Verkaufsstart im März 2025 bekannt gegeben.