Sie galt bislang als das Biest unter den Superbikes. Sauschön, sauschnell, aber eben eine echte italienische Diva – impulsiv und nie in Gänze berechenbar. Dem Erfolg der Panigale V4 hat das nicht geschadet, im Gegenteil: Die Vierzylinder-Ducati ist aktuell das meistverkaufte Superbike. 2019 haben sich 8.300 Kunden weltweit für die exklusive, deutlich über 20.000,-- Euro teure Rennmaschine entschieden. Damit ist fast jede sechste Ducati eine Panigale.
Schlagartige Leistungsentfaltung, vehemente Gasannahme, durchwachsenes Vertrauen ins Vorderrad bei sehr starkem Bremsen und eine unbändige Tendenz zum Wheelie beim Beschleunigen – bei aller Grandezza und Begehrlichkeit machten derlei Eigenarten die Panigale V4 wahrlich nicht für jeden ambitionierten Fahrer zur idealen Wahl. Das dürfte sich jetzt ändern: „Leichter zu fahren, weniger fordernd, auch mit Nichtprofis schneller auf der Rennstrecke“ – das sind laut Ducatis Produkt-Kommunikator Giulio Fabbri die drei wichtigsten neuen Eigenschaften der 2020er V4 und V4 S.
Zupackend: Bremssystem mit Brembo Stylema Monoblock-Bremssätteln
Umgänglicher und mehr Tempo
Auf dem Formel-1-Kurs von Bahrain konnten wir exklusiv die ersten Runden drehen mit der neuen Modellgeneration. Und in der Tat, so das einhellige Urteil der anwesenden Tester: Das Bike ist jetzt viel umgänglicher. „Viele, viele kleine Änderungen, die zusammen einen großen Effekt haben“, fasst Cheftester Alessandro Valia die Komplettüberarbeitung zusammen: mehr Speed dank besserer Beherrschbarkeit in allen Lebenslagen!
Einen großen Anteil an den Verbesserungen hat das neue Aerodynamikpaket. Es stammt im Wesentlichen von der V4 R (221 bis 234 PS, ab 39.900,-- Euro). Die neue Plexiglasscheibe ragt höher auf und steht schräger. „Dadurch bietet sie einen besseren Windschutz für den Fahrer, insbesondere im Helm- und Schulterbereich“, sagt Carlo Ricci Maccarini, Leiter Ducati Superbike Performance Development. Auch die neue Bugverkleidung ist höher und zudem breiter (+15 mm) in der Armschutzzone, die seitlichen Verkleidungen legen in der Breite sogar um jeweils 38 mm zu. All das reduziert den arm- und schulterbedingten Widerstand auf der Geraden. Wobei natürlich nach wie vor gilt: Mach dich so klein wie nur irgend möglich auf dem Bock, sonst reißt dir der Fahrtwind die Birne nach hinten. Und schmeißt dich vom Bike.
Schräglage leicht gemacht: Durch die seitlichen Winglets liegt die neue Panigale V4 S viel stabiler auf der Straße. Das erhöht das Urvertrauen ins Bike
Winglets von der Panigale V4 R
Maßgeblichen Anteil am verbesserten Fahrverhalten haben die neuen seitlichen Flügel vorn an der Verkleidung, Winglets getauft, die auf der Straße bislang der exklusiven Panigale V4 R vorbehalten waren. Sie erhöhen beispielsweise den Gesamtabtrieb bei 270 km/h um 30 (!) kg. Das bringt spürbar mehr Ruhe ins Vorderrad. Das „Schweben“ bei hoher Geschwindigkeit wird deutlich reduziert, die Stabilität beim Bremsen am Einlenkpunkt und in der Kurve legt zu. Der abtriebsbedingte leichte Anstieg des Lenkmoments zahlt vertrauensvoll aufs Feeling fürs Bike ein. Die Folge: Du bleibst instinktiv länger am Gas und steigst später in die Eisen. Ein elementarer Schritt zu schnelleren Rundenzeiten.
„Das Gros der Fahrwerks-Modifikationen hängt mit dem neuen Vorderrahmen zusammen. Es ist jetzt einfacher, das Bike in die Kurve zu legen, wenn man die Bremsen löst. Dadurch erreicht man den Scheitelpunkt schneller, zudem kann das Fahrwerk Bodenwellen effektiver aufnehmen und verhält sich neutraler beim Beschleunigen aus der Kurve heraus“, erklärt Valia. Vorgaben, die Ducati Corse ersonnen hat. In enger Anlehnung an die extrem schnellen MotoGP-Bikes der Italiener; mit 356,7 km/h hält Ducati-Pilot Andrea Dovizioso seit 2018 den Highspeed-Rekord der Königsklasse.
Alles im Blick: 5-Zoll-Farbdisplay, vorbereitet für Ducati Lap Timer GPS, Ducati Data Analyser+ GPS und Ducati Multimedia System
Volles Vertrauen ins Vorderrad
Die Front der feingetunten Panigale ist 4 Millimeter höher als beim Vorgängermodell, der Motor wanderte 5 mm nach oben, der Heckstoßdämpfer ist 2 mm länger. „Die vorgenommenen Änderungen an Fahrwerksabstimmung, Schwerpunkthöhe und Kettenzugwinkel verbessern die Balance des Motorrads in allen Phasen der Fahrt“, verspricht Maccarini.
Abgeschwächte Wheelie-Tendenz, geänderte Kennzeiten fürs Ride-by-Wire-System, weniger „Floating“ und verbesserte Bremswirkung durch die Winglets – all das und einige Feinheiten mehr steigern das Vertrauen ins Vorderrad, sorgen für bessere Rundenzeiten und lassen den Fahrer – so argumentiert Ducati – folglich länger durchhalten beim Bestzeitenschrubben, weil er ermüdungsfreier auf seinem Rennkissen kauert. Und weil er sich schon nach kurzer Eingewöhnung seeehr viel zutraut auf der neuen Panigale V4 S – was die Maschine auch klaglos mitmacht.
Geballte Power: Die neue Ducati Panigale V4 S setzt auf reinrassige MotoGP-Technik. Größtes Plus: Die jüngste Generation ist sehr viel einfacher zu beherrschen als ihre Vorgängerin
Radikale Bremskräfte
Aber neue Ergonomie hin oder her: Ich war nach vier Stints à 15 Minuten plus zehn Minuten Warm-up restlos im Eimer. Weil es für nicht Supersportler einfach wahnsinnig anstrengend ist, sich aus fast 300 km/h runterzubremsen am Ende der Start/Ziel auf dem Bahrain International Circuit, um dann im zweiten Gang die anschließende Rechtskurve zu erwischen. Weil man selbst auf den kürzeren Geradeaus-Geläufen ruckzuck über 230 km/h und mehr auf der Uhr hat, die ebenfalls teils radikal abgebaut werden wollen, bevor es mit einer Schräglage von 50 Grad und mehr rechts oder links in die nächste der insgesamt 15 Kurven des 5,4 Kilometer langen Kurses geht. Machst du das vier Runden hintereinander, japst du nach Sauerstoff und brauchst drei Liter Wasser. Mindestens.
Aber, und darum geht es: Auch ohne Motorsport-Vergangenheit oder regelmäßige Rundstreckenausflüge bekommst du das auf der Ducati Panigale V4 S jetzt hin. Ein derartiges Gottvertrauen ins Bike und in die Technik bescherten halbwegs couragierten Racetrack-Fahrern bislang nur die BMW S 1000 RR und die Honda Fireblade. Jetzt gehört auch die Panigale in diesen erlauchten Kreis der Superbikes, die einem das Gefühl geben, ihre Fahrer auf Dauer immer besser und schneller zu machen. Wer moderne elektronische Helfer wie das Ducati Safety Pack nicht schätzt und lieber auf sein eigenes, unverfälschtes, fahrerisches Können setzt, der kann das vorbildliche Rund-um-sorglos-Fahrdynamikpaket übers Bordmenü auf Eis legen. Selbst schuld, wer dann 22.790,-- Euro (Panigale V4) oder 28.890,-- Euro (Panigale V4 S) wegschmeißt. Denn der Schub der Panigale ist gewaltig.
Beste Grüße an Hamilton, Vettel und Co: Die ersten offiziellen Testfahrten mit dem neuen Ducati-Superbike fanden auf dem Formel-1-Kurs von Bahrain statt.
Die Elektronik macht das schon
124 Newtonmeter schieben die Super-Duc explosionsartig an. 214 PS zerren am Hinterrad, mit Rennkit sind es sogar 226 PS. Ein aberwitziges Leistungspaket angesichts der 174 Kilogramm Trockengewicht. Fahrbereit sind es 21 kg mehr. Die gefahrene Geschwindigkeit kannst du auf der Rennstrecke meist nur erahnen: keine Zeit für einen Blick auf das gut ablesbare Display. Die 100-km/h-Marke fällt nach knapp drei Sekunden, Tempo 200 liegt nach gut zehn Sekunden an. Die Panigale ist ein grandioses Geschoss. Gezügelt und domestiziert nur von der extrem aufmerksamen Elektronik, die Ducati noch einmal feiner und ausgeklügelter abgestimmt hat. Jede Fahrsituation wird von Boschs sechsachsigem Superhirn „6D IMU“ in Millisekundenschnelle erfasst und analysiert. Übertreibt es der Fahrer, greift die Inertial Measurement Unit helfend ein. Beim Bremsen, Beschleunigen, am Kurvenein- oder -ausgang, in Schräglage und beim Start. Zu den E-Assistenten gehören drei Fahrmodi (Race, Sport, Straße), Bosch Kurven-ABS EVO (dreistufig), Ducati Traction Control EVO (achtstufig), Ducati Slide Control, Ducati Wheelie Control EVO, Ducati Power Launch, Ducati Quick Shift up/down EVO und Engine Brake Control EVO. Das volle Programm. Für volles Fahrvergnügen. Auf der Rennstrecke und auf der Straße. Darauf ist auch die Bremselektronik abgestimmt: Stufe 1 bietet einen renntauglich späten ABS-Eingriff mit Kurvenfunktion nur am Vorderrad. In Stufe 2 ist die „Slide by brake“-Funktion aktiviert, mit der Fahrer laut Ducati „spektakulär und sicher in die Kurven hineindriften können“. Stufe 3 ist für den Straßeneinsatz konzipiert. Was wäre schon die Wissenschaft der Geschwindigkeit ohne die Wissenschaft des Bremsens?